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Die Menschen waren es gewohnt, zusammenzurücken

■ Interview mit Rudolf W. Haempel (63) vom Deutschen Roten Kreuz über die Reaktion der BerlinerInnen auf die Flüchtlingswelle aus der DDR in den 50er Jahren

Rudolf W. Haempel war ab 1953 als Abteilungsleiter beim DRK für die Annahme und Verteilung der Spenden an DDR -Flüchtlinge zuständig

taz: Zur Zeit kommen so viele DDR-Übersiedler in die Stadt, daß viele in Schulturnhallen campieren müssen. Wie haben Sie es 1953 geschafft, die über 300.000 Flüchtlinge unterzubringen?

Haempel: Das Rote Kreuz hatte 1953 58 Heime mit 28.000 Bettplätzen. Wobei nicht jeder Flüchtling ein Bett hatte. In vielen Heimen, die innerhalb von Stunden geschaffen wurden, war zunächst nur ein primitives Strohlager. Wo sollte man auch in solcher Geschwindigkeit Bettgestelle und Matratzen auftreiben? Die Heime wurden dann natürlich nachgerüstet, so daß niemand mehr auf der Erde schlafen mußte.

Aber für eine Übergangszeit mußte man das in Kauf nehmen, und das wurde von den Flüchtlingen auch in Kauf genommen. Und die Berliner wußten um die Situation und haben sich den Flüchtlingen gegenüber sehr positiv verhalten: Sie haben sehr viele Spenden gegeben, Kleidung und Möbel für die Flüchtlinge, die eine Wohnung gefunden hatten.

Blieben alle Flüchtlinge in West-Berlin?

Viele wurden ausgeflogen. Für Flüchtlinge war es ja nicht möglich, den Transitverkehr zu benutzen. Es gab extra ein kleines Heim am Flughafen Tempelhof, das sogenannte Abfluglager. Und wenn eine Linienmaschine nicht voll besetzt war und man stellte eine Stunde vor dem Start fest, da sind noch Plätze frei, dann wurden die Flüchtlinge ausgeflogen. Die gingen dann weiter in die verschiedenen Aufnahmelager im Bundesgebiet. Einen Schlüssel, der festlegte, welches Bundesland wieviele Flüchtlinge nehmen mußte, den gab es damals schon. Gleichzeitig wurden für die, die in Berlin bleiben sollten, einfache Wohnungen gebaut. Da stehen noch heute Häuser draußen in Lichtenrade.

War es damals so wie heute, daß viele Flüchtlinge in Berlin bleiben wollten und sich gegen einen Umzug ins Bundesgebiet wehrten?

Die Leute damals waren ganz gut aufgeklärt und wußten, daß nicht alle in Berlin bleiben konnten. Aber wer hier bleiben wollte, weil er Verwandte hier hatte, oder auf die Kinder oder auf die Frau warten wollte, dem ist auch die Möglichkeit geschaffen worden, hier auszuharren. Viele sind ins Bundesgebiet gegangen und haben sich später ins Flugzeug gesetzt und sind nach Berlin zurückgeflogen und haben sich hier Arbeit gesucht.

Wie schwer war es damals, in West-Berlin eine Wohnung zu finden?

Es waren viele Wohnungen durch den Krieg zerstört, es gab aber viele Leute, die Zimmer untervermieteten, um so einen Teil ihrer Miete zu decken. Und die Menschen waren auch nicht so anspruchsvoll, daß jeder seine eigenen vier Wände haben will, sobald er flügge geworden ist. Die Menschen waren aus dem Krieg gewohnt, zusammenzurücken und aufeinander Rücksicht zu nehmen.

War es einfacher, Arbeit zu finden? Das ist die Zeit der wirtschaftlichen Entwicklung gewesen, da wurden viele Arbeitskräfte gesucht. Natürlich fanden die meisten in relativ kurzer Zeit Arbeit, auch in Berlin, denn auch Berlin war ja im Aufbau begriffen.

Bekamen die Flüchtlinge außer einem Platz im Heim und Kleidung auch Geld?

Nein, solange sie in Heimen wohnten und noch keine eigene Wohnung hatten, nicht. Sie hatten auch keine Arbeitserlaubnis, solange das Anerkennungsverfahren lief. Wir haben aber aus Spenden aus dem Ausland Schuhmacherwerkstätten, Tischlerwerkstätten bekommen, so daß ein Schuhmacher, der im Heim wohnte, den Heimbewohnern Schuhe besohlen konnte, Schulranzen nähen, Koffer reparieren.

Woher kamen denn die Spenden?

Die Spenden kamen zum großen Teil aus Berlin, dem Bundesgebiet, aber auch aus dem Ausland, aus Norwegen, Schweden, Kanada, Vereinigte Staaten, Italien. Es kamen viele Naturalien, Lebensmittel, Kleidungsstücke. Sie müssen sich vorstellen: die Flüchtlinge kamen ohne alles hier an, zum Teil hatten sie noch nicht mal die Zahnbürste dabei. Jeder, der ein Gepäckstück dabei hatte, erregte ja sonst die Aufmerksamkeit an der Grenze. Da war das schon ein Problem, den Leuten was zum Wechseln zu verschaffen. In jedem Heim gab es eine Spendenausgabestelle, da wurde so lange probiert, bis was Passendes gefunden war.

Das Sortiment war groß, das ging vom Hochzeitskleid bis zum Badeanzung. Und wir haben sogar in einem unserer Häuser eine Hochzeitssuite gehabt. Wenn junge Paare ihr Aufgebot bestellt hatten und in einem Heim beim Roten Kreuz wohnten, konnten sie für drei Tage diese Hochzeitssuite bekommen. Und die haben wir also auch entsprechend ausstaffiert.

Können Sie sich daran erinnern, wie die Berliner damals über die Flüchtlinge gesprochen haben? War das so wie heute: „Hoffentlich kommen nicht noch mehr, sonst ist Berlin bald zu voll?„

Die Leute waren viel aufgeschlossener den Flüchtlingen gegenüber. Wenn ein Heim aufgemacht werden sollte, dann gab es keine Proteste, so wie heute. Das lag daran, daß die Leute kurz zuvor viel erlebt hatten und gezwungen gewesen waren, miteinander auszukommen.

Auch in Berlin waren ja 45, 46, 47, 48 Leute aus viel entfernteren Gegenden angekommen und froh gewesen, daß sie hier bleiben konnten und Aufnahme gefunden hatten. Sie wissen ja, die meisten Berliner kommen aus Schlesien, hat man früher gesagt. Und das stimmt auch. Aber es waren ja auch Leute aus Westpreußen, aus Ostpreußen in den letzten Kriegstagen hier einströmt, die froh waren, ein Dach über dem Kopf zu haben. Und nun kamen andere in Berlin an, in der gleichen Situation, oder vielleicht noch schlimmer, weil sie ja überhaupt nichts mitbringen konnten. Und da haben die Leute, die schon hier waren, wirklich viel Verständnis gehabt. Und nur so kann man eine solche Situation meistern.

Heute ist das nicht mehr so. Für die meisten BerlinerInnen sind die, die jetzt aus der DDR ankommen eben nicht mehr „Brüder und Schwestern“.

Man sollte sich mal daran erinnern, wie's einem selbst gegangen ist. Nicht nur auf der Wohlstandswelle schwimmen, sondern mal zurückgucken, wie war's vor 20, 30, 40 Jahren. Heute gibt es wesentlich mehr Wirtschaftskraft, den meisten geht's zu gut, die können sich nicht mehr daran erinnern, woher sie kommen.

Meinen Sie, daß das auch am Verhalten der Politiker liegt?

Wenn ich an die 50er Jahre denke, wo wir den Bürgermeister Ernst Reuter hatten: der war wirklich in der Lage, den Berlinern zu sagen, worauf es ankommt, und hatte einen großen Einfluß auf die Bevölkerung.

Frau Stahmer hat jetzt ein Telefon eingerichtet, wo Berliner Hilfsangebote für Übersiedler machen können.

Das ist sicher eine gute Sache, aber damals war's etwas energischer... Ernst Reuter hat den Leuten mit Erfolg ins Gewissen geredet. Ab und zu wurden mal die Köpfe zurechtgerückt. Allein, daß die Politiker damals vor Ort gingen, in die Heime, und gefragt haben, was fehlt, damit haben sie natürlich auch auf die Bevölkerung eingewirkt. Das Interview führte

Myriam Modero

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