: Grenzverkehr
■ Nirgendwo sonst in der "freien Welt" sind die Lebensbedingungen zu beiden Seiten einer Grenze so unterschiedlich wie zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko...
Marcel Bergmann GRENZVERKEHR
Nirgendwo sonst in der „freien Welt“ sind die Lebensbedingungen zu beiden Seiten einer Grenze so unterschiedlich wie zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko. Die Konstruktion der Grenzanlagen in der texanischen Grenzstadt El Paso weckt unwillkürlich Erinnerungen an Berlin. Beton und Stacheldraht, soweit das Auge reicht, dazu Sprühparolen in allen Farben: „Rompemos la frontera - Laßt uns die Grenze niederreißen“.
San Diego, Millionenmetropole im äußersten Südwesten Kaliforniens, knapp zwei Autostunden von Los Angeles entfernt: Von hier dauert die Busfahrt mit dem „Greyhound“ nicht mehr als eine halbe Stunde bis zur 15 Meilen südlich gelegenen Grenzstadt San Ysidro. Als ich auf dem Fußweg die Grenze erreiche, bin ich zunächst einigermaßen überrascht: Einreiseformalitäten nach Mexiko scheint es nicht zu geben, keine Paß- oder Gepäckkontrollen, nicht ein mexikanischer Zollbeamter ist auf dem gut 200 Meter breiten Grenzstreifen zu sehen.
Statt dessen wimmelt es von geschäftstüchtigen Einheimischen, schwarzhaarig und klischeegebräunt, die dem allmorgendlichen Touristenstrom ihre Waren und Dienste entgegenhalten. Halbwüchsige Chicos, die mit ausgedienten Einkaufswagen luxusschweres Touristengepäck befördern, barfüßige Schuhputzer und heisere Marktschreier, die „echt mexikanische“ Prozellantiger und -flamingos feilbieten, pseudofolkloristische Musikgruppen, die zu Akkordeon- und Gitarrenspiel mit viel „Ayayayaiii“ und Herzschmerz südländische Gassenhauer schmettern, dazu das riesige Heer zerlumpter Bettler und Bauernfänger, deren Lebensziel auf die kleine runde Fläche silberner US-Münzen zusammengeschrumpft ist. Diese Grenze ist mehr als nur die Nahtstelle zweier unterschiedlicher Staaten. Sie ist der Treffpunkt zweier Welten, an dem Industrienation und Entwicklungsland, Erste und Dritte Welt, verschwenderischer Reichtum und existentielle Armut aufeinanderprallen.
Die Fakten: Mexiko ist nach Brasilien das größte Schuldnerland der Dritten Welt (über 100 Milliarden US -Dollar). Bis zum Ende dieses Jahres muß davon rund ein Drittel zurückbezahlt werden, eine Summe, die höher liegt als die erwarteten Exportüberschüsse. Die zusätzliche Kapitalflucht - die Devisenbestände der Zentralbank Banco de Mexico haben in den letzten Monaten in bedenklichem Maße abgenommen - stürzt das Land immer tiefer in die Wirtschaftskrise: Inflationsrate um 100 Prozent, Realeinkommen in den vergangenen sechs Jahren um 50 Prozent gesunken, erwartete Wachstumsrate für dieses Jahr unter einem Prozent. Die Situation des größten mittelamerikanischen Staates scheint nahezu aussichtslos.
Die ersten Eindrücke von der zwei Kilometer entfernten mexikanischen Grenzstadt Tijuana, die ich für einen Dollar mit einem Uralt-Taxi erreiche, sind nicht dazu angetan, die Aussagen der Wirtschaftsstatistik zu entkräften. Ganz im Gegenteil.
Sobald man sich der Innenstadt nähert, geht die allgemeine Anbiederung weiter. Der Touristendollar schafft zwei Klassen von Menschen, trennt sie weit mehr als etwa Rasse oder Kultur. Auch ohne Darwin weiß man hier, daß nur der Stärkere überlebt. Daraus entwickelt sich eine fast groteske Jagd auf alles, was nach Tourist aussieht. „Taxi, amigo“, brüllt mir ein schnurrbärtiger Hombre ins Ohr, der offensichtlich nicht weiß, daß ich gerade erst angekommen bin. Als ich abwinke, folgt er mir hartnäckig. „Hey, let me tell you something“, glaube ich in sehr schlechtem Englisch zu verstehen, und als ich daraufhin stehenbleibe: „You want love with 16 year old girl?“ Der so unversehens vertrauliche Ton, dazu Hand- und Hüftbewegung lassen wirklich kein Mißverständnis zu.
Nachdem ich freundlich und entschieden abgelehnt habe, schlendere ich weiter durch den Stadtkern, vorbei an gehaltlosen Souvenirläden und übelriechenden Imbißbuden, an heruntergekommenen Straßencafes und baufälligen Häuserfassaden, die mich an Bilder deutscher Städte im Krieg erinnern. An nahezu jeder Straßenecke stehen bunt ausstaffierte, keramikbepackte Esel, die in dumpfer Ergebenheit auf das nächste Touristenfoto warten, das dem Besitzer - natürlich im stilechten Sombrero - wieder ein paar Cents einbringt.
Cents wohlgemerkt, denn mexikanische Pesos, geschweige denn Centavos will hier keiner. Die eigentliche Landeswährung sind US-Dollar, zumal der Peso mitunter stündlich weiter an Wert verliert, so daß die Händler gezwungen sind, den Umtauschkurs innerhalb nur weniger Stunden mehrmals zu ändern. 1981 tauschte man noch 23 Pesos gegen einen Dollar. 1987 benötigte man bereits das Hundertfache (über 2.000 Pesos!), um einen Dollar zu bekommen, und die Inflation galoppiert weiter.
Auf den verdreckten Bürgersteigen der Innenstadt wälzen sich zwischen Bettlern und Straßenverkäufern zähe Menschenmassen, hoffnungslos überfüllte Busse rollen durch den stickigen Staub der nur unzureichend asphaltierten Straßen. Ab und zu hört man die aufgebrachte Trillerpfeife eines herrlich uniformierten Polizisten, ausgerüstet mit Pistole und Schlagstock, der sich wie ein mexikanischer Don Quijote gegen das bunte Verkehrschaos stemmt.
Um einen besseren Gesamteindruck von der 500.000-Einwohner -Stadt Tijuana zu bekommen, nutzte ich einen der vielen Busse zu einer längeren Stadtrundfahrt. Sobald die Außenbezirke erreicht sind, ändert sich das Bild erneut schlagartig. Die allgemeine Armut wird nirgendwo deutlicher als am erbärmlichen Zustand der Wohnverhältnisse. Die Häuser - oder genauer die Hütten -, aus Lehm oder altem Holz errichtet, bedeckt mit vielfach beschädigten Wellblechdächern, stehen kreuz und quer, krumm und schief, ohne erkennbare Straßenanlagen, auf entweder staubigen oder vom Regen aufgeweichten, dann matschigen Grund. Fast überall hängt oder liegt schmutzige Wäsche, verwahrloste Hunde und Kinder spielen im Abfall vor den Haustüren, allenthalben riecht es nach Abort.
Der messerscharfe Kontrast zu den benachbarten USA, wo die Tiere im monumentalen Zoo von San Diego einen Lebensstandard genießen, von dem das einfache Volk hier nur träumen kann, ist deprimierend.
Die Busfahrt ist nichts für Menschen mit angegriffener Gesundheit. Feiner Staub wirbelt durch die wegen der Hitze weit geöffneten Fenster und legt sich millimeterdick auf alle Insassen. Badewannengroße Schlaglöcher, die der Fahrer je nach Laune umkurvt oder durchfährt, sorgen für eine Art Achterbahngefühl, für das ich früher auf dem Jahrmarkt mein Taschengeld ausgegeben habe. Immer mehr Fahrgäste steigen in den längst überfüllten Bus, meine Bewegungsfreiheit ist gleich Null, der Sauerstoffgehalt der Luft in Kürze auch.
In einem grenznahen Stadtteil verlasse ich die wattige Schwüle des Busses und mache mich auf den Rückweg. In Sichtweite der Grenze schlägt mir schon der Geruch von Tacos und Nachos, von gebratenem Fleisch und ranzigem Fett entgegen. Das Heer der Straßenhändler hat sich nun, in den frühen Abendstunden, auf der anderen Seite vor den US -amerikanischen Zollbehörden formiert, um den Rückreisenden auf den letzten Metern vielleicht noch irgendeinen nutzlos -wertvollen Souvenirartikel zu verkaufen.
Hier, an der US-Zollabfertigung, hat sich inzwischen eine ansehnliche Menschenschlange gebildet, da sich die Beamten bei der Kontrolle viel Zeit lassen. Jeder Einreisewillige wird genauestens befragt und durchsucht, bevor er durch die Schleuse der Verdächtigung ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten entlassen wird.
Der Hintergrund der peinlichen Gründlichkeit ist hinreichend bekannt: Die illegale Einwanderung aus Mexiko und aus den karibischen Ländern stellt eines der vordringlichsten Probleme der US-amerikanischen Innenpolitik dar. Nach Schätzungen des „Immigration and Naturalization Service“ leben gegenwärtig circa sechs Millionen illegale Einwanderer in den USA. Da der durchschnittliche Arbeitslohn in Mexiko weniger als ein Siebtel des US-amerikanischen Minimum-Einkommens beträgt, stellen die mexikanischen Einwanderer für amerikanische Unternehmen billige Arbeitskräfte dar. Oftmals arbeiten sie, völlig unterbezahlt, 50 oder mehr Stunden in der Woche. Ergebnis: Zahllose Arbeitsplätze gehen verloren, und das allgemeine Lohnniveau wird ganz erheblich gedrückt. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, wurde 1986 der „Immigration Reform and Control Act“ verabschiedet, der harte Strafen für Arbeitgeber vorsieht, die Arbeiter ohne Aufenthaltsgenehmigung beschäftigen. Zusätzlich versuchen die US-Behörden durch schärfere Grenzkontrollen und zahlreiche Ausweisungen den stetig anwachsenden Strom der sogenannten Wirtschaftsflüchtlinge einzudämmen.
Eine Million sind es laut Statistik trotzdem jährlich, die über die Grenze kommen, davon die Hälfte illegal. Die Mehrzahl nimmt den Weg über bzw. durch das Wasser, sei es auf dem Schiffsweg über den Pazifik, sei es über den US -amerikanisch-mexikanischen Grenzfluß, den Rio Grande. Nur mit dem Nötigsten ausgerüstet, hoffen sie auf einen ersten Unterschlupf bei Freunden oder Verwandten, die schon „drüben“ sind.
Aber selbst wenn sie dem unmittelbaren Zugriff der US -Einwanderungsbehörden entgehen sollten, werden sie ihre Wünsche und Ziele nur schwerlich verwirklichen können. Denn die „Hispanics“, wie sie in den USA genannt werden, nehmen auf der sozialen Leiter des nordamerikanischen „Schmelztiegels“ lediglich den vorletzten Platz ein, gefolgt nur noch von den Indianern, die jedoch sozusagen außer Konkurrenz sind.
Der Rückreisestau am Grenzübergang ist inzwischen weiter angewachsen. Inmitten der Menschenschlange wird meine Aufmerksamkeit auf einen vielleicht achtjährigen Jungen gelenkt, der sich auf einer wackeligen Holzkiste zu voller Größe aufgebaut hat und über alle Köpfe hinweg aus Leibeskräften den populären spanischen Evergreen „La bamba“ kräht, von dem er hauptsächlich den einprägsamen Zweizeiler „Yo no soy marinero, yo no soy marinero, soy capitan“ auswendig weiß. Sein Erfolg ist erstaunlich: Zahlreiche, mit der Geste lächelnder Großzügigkeit gegebene, Dime- und Quartermünzen wandern in seine Taschen, bis ihn schließlich einer der sichtlich genervten Zollbeamten zum Rückzug zwingt.
Einige Zeit später, inzwischen auf der anderen Grenzseite angekommen, höre ich ihn wieder, sein dünnes Stimmchen, das ständig die immer gleiche Liedstelle wiederholt, so lange bis er erneut fortgejagt wird. Er wird wiederkommen, jedesmal. Dessen bin ich sicher. An dieser Grenze, auf Tuchfühlung mit einem anderen, verheißungsvolleren Leben, liegt schließlich sein Arbeitsplatz, seine Zukunftshoffnung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen