: Ideologie und Terror: Eine neue Staatsform
■ 1945 hatte Hannah Arendt mit der Niederschrift ihres Buches „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ begonnen. Der hier in kurzen Auszügen abgedruckte Abschnitt erschien erstmals im Juli 1953 in der 'Review of Politics‘.
Hannah Arendt
Die Originalität totalitärer Herrschaft, deren Taten in der uns bekannten Geschichte und deren Organisationsform unter den von der klassischen politischen Theorie definierten Staatsformen ohne Parallele dastehen, zeigte sich vorerst in dem, was man gemeinhin als die Verbrechen dieser Systeme bezeichnet. Das Charakteristische der in Nürnberg abgeurteilten Taten des Naziregimes war, daß sie sich weder mit unseren Begriffen von Sünde und Vergehen - wie sie seit Jahrtausenden in den zehn Geboten niedergelegt und scheinbar endgültig formuliert waren - fassen, noch sie mit den uns zur Verfügung stehenden juristischen Mitteln aburteilen und bestrafen ließen. Der Satz „Du sollst nicht töten“ versagt gegenüber einer Bevölkerungspolitik, die systematisch oder fabrikmäßig darangeht, die „lebensuntauglichen und minderwertigen Rassen und Individuen“ oder die „sterbenden Klassen“ zu vernichten, und dies nicht als einmalige Aktion, sondern offenbar in einem auf Permanenz berechneten und angelegten Verfahren. Die Todesstrafe wird absurd, wenn man es nicht mit Mördern zu tun hat, die wissen, was Mord ist, sondern mit Bevölkerungspolitikern, die den Millionenmord so organisieren, daß alle Beteiligten subjektiv unschuldig sind: die Ermordeten, weil sie sich nicht gegen das Regime vergangen haben, und die Mörder, weil sie keineswegs aus „mörderischen“ Motiven handelten. Stellt man sich angesichts dieser neuesten Ereignisse auf den Boden spezifisch abendländischer Geschichte, so kann man sagen: Dies hätte nicht geschehen dürfen, und zwar in dem Sinn, in dem Kant meinte, daß während eines Krieges nichts geschehen dürfe, was einen späteren Frieden schlechthin unmöglich machen würde.
Das Entsetzen, das sagt: Dies hätte nicht geschehen dürfen, meint nicht, daß wir dies nicht wiedergutmachen können (denn gutmachen kann man ohnehin niemals, wo Menschen wirklich handeln), sondern daß wir dies nicht verantworten können. Politisch übernimmt jede Regierung eines Landes die Verantwortung für das, was die vorhergehende getan hat, auch wenn sie trachtet, es rückgängig zu machen. Ohne eine solche Übernahme gäbe es eine geschichtliche Kontinuität. Menschlich müssen wir weitgehend Verantwortung auch für das übernehmen, was Menschen ohne unser Wissen und Zutun irgendwo in der Welt verbrochen haben; sonst gäbe es keine Einheit des Menschengeschlechts. Wir können es, weil uns gerade die spezifisch bösen Motive oder die spezifisch berechnete Zweckmäßigkeit der Handlung menschlich einsichtig ist. Auch die Bestrafung des Verbrechens ist noch kein Akt der Verantwortung und menschlichen Solidarität. Die Gaskammern des Dritten Reiches und die Konzentrationslager der Sowjetunion haben die Kontinuität abendländischer Geschichte unterbrochen, weil niemand im Ernst die Verantwortung für sie übernehmen kann. Zugleich bedrohen sie jene Solidarität von Menschen untereinander, welche die Voraussetzung dafür ist, daß wir es überhaupt wagen können, die Handlungen anderer zu beurteilen und abzuurteilen.
Es ist Aufgabe der historisch-politischen Wissenschaften, diesen Ereignissen nachzugehen und festzustellen, mit welchen Mitteln und in welchem Funktionszusammenhang sie ins Werk gesetzt wurden. Dabei ist wichtig, sich darüber klar zu werden, daß es sich nicht darum handeln kann, das spezifisch Unerhörte durch beliebige Parallelen mit der Vergangenheit wegzuerklären oder auf jenen Aspekten totalitärer Herrschaft, die sie mit anderen Gewaltherrschaften teilt und die in ihren Anfangsstadien deutlich in Erscheinung treten, zu bestehen; sondern im Gegenteil zu versuchen, das wesentlich Neue, das nämlich, was diese Herrschaft wirklich zu einer totalen Beherrschung macht, in den Blick zu bekommen.
Das Wesen totalitärer Herrschaft in diesem Sinne ist der Terror, der aber nicht willkürlich und nicht nach den Regeln des Machthungers eines einzelnen (wie in der Tyrannis), sondern in Übereinstimmung mit außermenschlichen Prozessen und ihren natürlichen oder geschichtlichen Gesetzen vollzogen wird. Als solcher ersetzt er den Zaun des Gesetzes, in dessen Umhegung Menschen in Freiheit sich bewegen können, durch ein eisernes Band, das die Menschen so stabilisiert, daß jede freie unvorhergesehene Handlung ausgeschlossen wird. Terror in diesem Sinne ist gleichsam das „Gesetz“, das nicht mehr übertreten werden kann. Diese terroristische Stabilisierung soll der Befreiung der sich bewegenden Geschichte oder Natur dienen. Eine Diskussion mit Anhängern totalitärer Bewegungen über Freiheit ist schon darum so außerordentlicn unergiebig, weil sie an menschlicher Freiheit, das heißt an der Freiheit menschlichen Handelns, nicht nur nicht interessiert sind, sondern sie für gefährlich für die Befreiung natürlicher oder historischer Prozesse halten. Die sogenannte Freiheit der Geschichte und der Natur, die sich je nach beobachtbaren Regeln vollzieht, kann für den Menschen in der Tat nur im Gewand der Notwendigkeit auftreten. Sofern Natur und Geschichte Kräfte sind, denen bis zu einem gewissen Grad Menschen immer unterworfen sind, haben sie den Charakter der Notwendigkeit; versucht man, auf sie einen politischen Körper zu gründen, so hat man nicht nur die menschliche Freiheit aus dem politischen Bereich ausgeschaltet, sondern direkt das von Natur oder Geschichte Gezwungenwerden zur Grundlage des gesamten Lebens gemacht. Die Prozesse von Natur und Geschichte äußern sich politisch als Zwang und können nur durch Zwingen realisiert werden. Auf diesem Zwang beruht, diesen Zwang realisiert der totalitäre Terror, nicht indem er gerechte oder ungerechte positive Gesetze erläßt und anwendet, sondern indem er den Bewegungsprozeß dieser Kräfte vollstreckt im Sinne der Exekution. Der Terror ist nicht ein Mittel zu einem Zweck, sondern die ständig benötigte Exekution der Gesetze natürlicher oder geschichtlicher Prozesse.
Wir kenen keinen vollkommenen totalitären Herrschaftsapparat, denn er würde die Beherrschung der gesamten Erde voraussetzen. Wir wissen aber genug von den immer noch vorläufigen Experimenten totaler Organisation, um zu erkennen, daß die durchaus mögliche Vervollkommnung dieses Apparats menschliches Handeln in dem uns bekannten Sinne abschaffen würde. Handeln würde sich als überflüssig erweisen im Zusammenleben der Menschen, wenn alle Menschen zu einem Menschen, alle Individuen zu Exemplaren der Gattung, alles Tun zu Beschleunigungsgriffen in der gesetzmäßigen Bewegungsapparatur der Geschichte oder der Natur und alle Taten zu Vollstreckungen der Todesurteile geworden sind, die Geschichte oder Natur ohnehin verhängt haben.
Totalitäre Herrschaft, deren Wesen der Terror ist und die daher auf ihn als ein furchteinflößendes Mittel der Beherrschung nicht mehr rechnen kann, rechnet überhaupt nicht mit handelnden Menschen und kann daher auch ein eigentliches Prinzip des Handelns, und sei es das Prinzip aus Furcht, gebrauchen. An seine Stelle setzt sie etwas ganz und gar anders Geartetes, das mit dem menschlichen Willen zum Handeln nichts mehr zu tun hat, dafür aber seinem Bedürfnis nach Einsicht entgegenkommt und ihn lehrt, die Bewegungsgrenze zu verstehen, die der Terror vollstreckt und die angeblich vor Geschichte und Natur über eine ihnen ausgelieferte Menschheit ohnehin verhängt worden sind. Innerhalb solcher über die Menschheit verhängten Prozesse, in die alle eingefangen sind und an denen sie nichts ändern können, außer daß sie dazu bestellt scheinen, ihre Geschwindigkeit zu erhöhen, kann es nur Vollstrecker und Opfer der ihnen inhärenten Gesetze geben. Im Sinne dieser Bewegungsgesetze liegt es, daß die, welche heute die Vollstrecker sind und „minderwertige Rassen und lebensunfähige Individuen“ oder „absterbende Klassen und dekadente Völker“ liquidieren, morgen diejenigen sein können, an denen dieser Ausscheidungsprozeß vollzogen werden muß. Das Verlangen nach Einsicht in diesen Prozeß mobilisiert die totalitäre Herrschaft, um beide, Vollstrecker wie Opfer, auf diesen Prozeß vorzubereiten. An die Stelle des Prinzips des Handelns tritt die Präparierung der Opfer, die Natur- oder Geschichtsprozeß fordern werden, eine Präparierung, die den einzelnen gleich gut für die Rolle des Vollstreckers wie für die des Opfers vorbereiten kann.
Diese Präparierung leistet in der totalitären Herrschaft die Ideologie. Der Gebrauch der Ideologien als politische Waffe ist so wenig auf totalitäre Bewegungen beschränkt, wie der Gebrauch des Terrors zum Zwecke der Einschüchterung auf totale Herrschaft beschränkt ist. Auf dem uralten Gebiet der Grausamkeit haben sich die totalitären Gewalthaber etwas Neues weder ausdenken können noch wollen; die fabrikmäßig betriebene Vernichtung von Menschen wird sogar mit einem Minimum an Grausamkeit ins Werk gesetzt. So haben die totalitären Bewegungen auch den von ihnen übernommenen Ideologien, dem Kommunismus oder dem Rassismus, der Lehre vom Kampf der Klassen oder der Lehre vom Recht des Stärkeren, nicht einen einzigen neuen Gedanken, ja, nicht einmal ein einziges neues Propagandaschlagwort hinzugefügt.
Die Idee der Ideologie ist weder das ewige Wesen vergänglicher Dinge noch die regulative Kraft der Vernunft, sie ist vielmehr ein Instrument, mit dessen Hilfe Prozesse und Ereignisse berechnet werden könnern Zu diesem Instrument wird die Idee durch die ihr innewohnende Logik, durch einen Prozeß, der aus der Idee selbst folgt und der unabhängig ist von allen äußeren Faktoren. Was den Rassismus als eine voll entwickelte Ideologie von den früheren Rassenvorstellungen unterscheidet, ist, daß hier angenommen wird, daß im Begriff der Rasse bereits eine Bewegung - der Prozeß der Rassenkämpfe, der Sieg und Untergang bestimmter Rassen usw.
-enthalten ist, daß mit anderen Worten der Geschichtsprozeß der Menschheit sich aus der Rassenideologie logisch entwickeln läßt.
Die Weltanschauungen und Ideologien des 19.Jahrhunderts sind an sich nicht totalitär, und wenn sich Rassismus und Kommunismus auch als die entscheidenden Ideologien des 20.Jahrhunderts entpuppt haben, so nicht deshalb, weil sie an sich „totalitärer“ wären als die anderen, sondern einzig und allein, weil die ihnen ursprünglich zugrunde liegenden Erfahrungselemente - der Kampf zwischen Rassen um die Herrschaft der Erde und der Kampf zwischen Klassen um die politische Macht im Innern der Staaten - sich als politisch bedeutsamer erweisen als die anderer Ideologien. In diesem Sinne war der Sieg des Rassismus und des Kommunismus über alle anderen Ismen entschieden, bevor die totalitären Bewegungen sich gerade dieser Ideologien bemächtigten. Totalitäre Elemente wiederum enthalten alle Ideologien, wenn sie auch nur von den totalitären Bewegungen voll entwickelt werden, wodurch dann der Schein entsteht, als seien nur Rassismus und Kommunismus totalitär. Wahr ist vielmehr, daß in der Rolle, welche die Ideologie in dem totalen Machtapparat spielt, das eigentliche Wesen aller Ideologien erst ans Licht getreten ist. In diesem Licht erscheinen drei spezifisch totalitäre Elemente, die allem ideologischen Denken eigentümlich sind.
Ideologien in ihrem Anspruch auf totale Welterklärung haben es erstens an sich, nicht das, was ist, sondern nur das, was wird, was entsteht und vergeht, zu erklären. Sie haben ein Element der Bewegung von vornherein in sich, weil sie sich überhaupt nur mit dem sich Bewegenden befassen, also mit Geschichte im gewöhnlichen Sinn des Wortes. Ideologien sind auch dann nur auf Geschichte gerichtet, wenn sie, wie im Falle des Rassismus, scheinbar von Natur ausgehen; Natur dient hier nur dazu, Geschichtliches zu erklären, es auf Natürliches zu reduzieren. Der Anspruch auf totale Welterklärung verspricht die totale Erklärung alles geschichtlich sich Ereignenden, und zwar totale Erklärung des Vergangenen, totales Sich-Auskennen im Gegenwärtigen und verläßliches Vorhersagen des Zukünftigen. Als solches wird ideologisches Denken zweitens unabhängig von aller Erfahrung, die ihm selbst dann nichts Neues mitteilen kann, wenn das Mitzuteilende soeben erst entstanden ist. Es emanzipiert sich also von der Wirklichkeit, so wie sie uns in unseren fünf Sinnen gegeben ist, und besteht ihr gegenüber auf einer „eigentlicheren“ Realität, die sich hinter diesem Gegebenen verberge, es aus dem Verborgenen beherrsche, und die wahrzunehmen wir einen sechsten Sinn benötigen. Den sechsten Sinn vermittelt eben die Ideologie, jene ideologische Schulung, welche auf den eigens dafür errichteten Erziehungsanstalten „politischer Soldaten“, den Ordensburgen der Nazis oder den Schulen der Komintern und Kominform, vermittelt wird. Der Emanzipation des Denkens von erfahrener und erfahrbarer Wirklichkeit dient auch die Propaganda der totalitären Bewegung, die immer darauf hinausläuft, jedem offenbar Geschehenen einen geheimen Sinn und jedem offenbaren politischen Handeln eine verschwörerische Absicht unterzulegen. Sind die Bewegungen erst einmal an die Macht gekommen, so beginnen sie, die Wirklichkeit im Sinne ihrer ideologischen Behauptungen zu verändern. Der Begriff der Feindschaft wird durch den der Verschwörung ersetzt und damit eine politische Realität hergestellt, in der hinter jeder Erfahrung des Wirklichen wirklicher Feindschaft oder wirklicher Freundschaft - der Natur der Sache nach etwas anderes vermutet werden muß.
Was man nicht sah und vor einigen Jahrzehnten wohl auch noch gar nicht sehen konnte, war, daß diese neuen, im 19.Jahrhundert geborenen Ideologien nicht nur, wie es den Anschein hatte, unverantwortliche Meinungen über die Wirklichkeit waren, die wie alle solche Meinungen gar nicht an Wahrheit, sondern an dem Beifall der Menge interessiert waren. Was man übersah, war das Element ihrer Beweisführung, ihre eigentümliche fanatische Stimmigkeit und Logik ihres Deduktionsprozesses aus einer Prämisse, mit der sie sich bereits angeschickt hatten, die Wirklichkeit selbst und die eigene Substanz zu verzehren.
Die Präparierung von Opfern und Henkern, welche das totalitäre Herrschaftssystem braucht und mit der es das Prinzip politischen Handelns ersetzt, ist also noch nicht einmal die Ideologie selbst, sondern vielmehr die jeder Ideologie inhärente Logik des Deduzierens.
Die Tyrannei des zwangsläufigen Schlußfolgerns, die unser Verstand jederzeit über uns selbst loslassen kann, ist der innere Zwang, mit dem wir uns selbst in den äußeren Zwang des Terrors einschalten und uns an ihn gleichschalten. Das einzige Gegenprinzip gegen diesen Zwang und gegen die Angst, sich selbst im Widersprechen zu verlieren, liegt in der menschlichen Spontaneität, in unserer Fähigkeit, „eine Reihe von vorne anfangen“ zu können. Alle Freiheit liegt in diesem Anfangenkönnen beschlossen. Über den Anfang hat keine zwangsläufige Argumentation je Gewalt, weil er aus keiner logischen Kette je ableitbar ist, ja, von allem deduzierenden Denken immer schon vorausgesetzt werden muß, um das Zwangsläufige zum Fuktionieren zu bringen.
Wie das eiserne Band des Terrors, der aus vielen Menschen einen Menschen machen will, verhindern muß, daß mit der Geburt eines jeden Menschen ein neuer Anfang in die Welt kommt, eine neue Welt anhebt, so soll der Selbstzwang der Logik verhüten, daß jemand irgendeinmal neu anfängt zu denken, also anstatt B und C zu sagen und so weiter bis zum Ende des mörderischen Alphabets, von sich aus A sagt. Der Zwang des totalen Terrors, der Menschen in Massen zusammenpreßt und so den Raum der Freiheit zwischen ihnen vernichtet, und der Zwang des logischen Deduzierens, der jeden einzelnen auf den durch Terror organisierten Marsch präpariert und ihn in die gehörige Bewegung versetzt, gehören zusammen, entsprechen und bedürfen einander, um die totalitäre Bewegung ständig in Bewegung zu halten. Der äußere Zwang des Terrors vernichtet mit der Zerstörung des Raums der Freiheit alle Beziehungen zwischen Menschen; zusammengepreßt mit allen anderen ist ein jeder ganz und gar von allen anderen isoliert. Der innere Zwang des konsequent ideologischen Denkens sichert diesem Zwang seine Wirksamkeit, indem er die also isolierten Individuen in einen permanenten, jederzeit übersehbaren, weil konsequent logischen Prozeß hineinreißt, in welchem ihnen jene Ruhe niemals gegönnt ist, in der sie allein die Wirklichkeit einer erfahrbaren Welt begegnen können.
Die große Anziehungskraft, die das dem Terror entsprechende, sich selbst zwingende Denken auf moderne Menschen ausübt, liegt in seiner Emanzipation von Wirlichkeit und Erfahrung. Je weniger die modernen Massen in dieser Welt noch wirklich zu Hause sein können, desto geneigter werden sie sich zeigen, sich in ein Narrenparadies oder eine Narrenhölle abkommandieren zu lassen, in der alles gekannt, erklärt und von übermenschlichen Gesetzen im vorhinein bestimmt ist. Verlieren sie im Prozeß dieser Entwicklung, in welcher sie selbst in die einmal losgelassene Bewegung erbarmungslos hineingezogen werden, auch zumeist den Glauben an die ursprüngliche ideologische Prämisse - die „klassenlose Gesellschaft“ oder die „Herrenrasse“ -, so bleibt ihnen doch wenigstens das Ganze in sich stimmige Netz von abstrakt logischen Deduktionen, Folgerungen und Schlüssen, um sie vor dem Schock des rein Tatsächlichen zu schützen. Aneinandergepreßt, aber auch gehalten von dem eisernen Band des Terrors, vorwärtsgetrieben, aber auch ständig aufrechterhalten von der nie versagenden Folgerichtigkeit eines ganz abstrakten logischen Räsonierens, bleiben ihnen in ihrem Marsch in die Zukunft alle Begegnung mit der wirklich daseienden Welt versagt, aber auch alle Erfahrungen eines menschlichen Lebens erspart - bis in die Erfahrung des eigenen Todes, wenn es schließlich an ihnen ist, die „Überflüssigen“ und „Schädlichen“ den Prozessen des Terrors zur Verfügung zu stellen.
Dankend entnommen: Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Piper-Verlag, 758 Seiten, 32,80 DM
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