: Ist Honecker ein Fremder im eigenen Land geworden?
Interview mit Klaus Bölling, einst ständiger Vertreter der Bundesrepublik in der DDR / Wiedervereinigungsgebot künftig kein Ansatz für einen den Deutschen in beiden Staaten helfende Politik / Mit einer förmlichen Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft ist im Augenblick nichts auszurichten ■ I N T E R V I E W
taz: Botschaftsbesetzungen, wie jetzt in Ost-Berlin und Budapest gab es schon öfter. Was blockiert heute - im Unterschied zu früheren Zeiten - eine humanitäre Lösung?
Klaus Bölling: Es ist die fast panische und doch auch rational begründete Angst der Führungsschicht, daß sich die ihnen anvertrauten Menschen, die vierzig Jahre als Mündel behandelt worden sind, heute, im Zeichen wahrhaft geschichtlicher Veränderungen im „sozialistischen Lager“ von ehedem, mit kleinen Reformen nicht mehr zufrieden geben wollen, daß sie womöglich mit dem kleinen Finger gleich die ganze Hand nehmen werden. Das Politbüro sieht, viel ernster als beim Arbeiteraufstand von 1953, die Machtfrage aufgeworfen. Der Applaus für die Brutalitäten der KPCh -Führung war eine gewollte Selbstauskunft der SED.
Was ist der Handlungsspielraum von Rechtsanwalt Vogel? Warum hat er sich verändert? Mußte Honecker ihn fallen lassen?
Die im besten Sinne humanitären Aktivitäten von Wolfgang Vogel haben manchen hohen SED-Funktionären immer schon mißfallen. Er hat - ich zitiere Herbert Wehner - seine Aufgabe darin gesehen, jenseits des Kampfes der Ideologien, die Wunden der Teilung lindern zu helfen. Klingt sehr pathetisch, stimmt aber. Vogel hat sich niemals als Politiker verstanden. Er wird aber, da fühle ich mich sicher, seine eigene Meinung über solche Politiker auf beiden Seiten haben, die ihm - als Konsequenz einer ideologisch eingefrorenen Politik - jetzt so viele Mandanten zutreiben, daß er bald ans Ende seiner Möglichkeiten gerät. Nein, Honecker hat sicherlich nicht seine Hand von Vogel gezogen. Er schätzt dessen große Fähigkeiten als Vermittler, hat sie oft genug, mit Gewinn für sich selber, genutzt. In einem Augenblick allerdings, da sich die Vertrauenskrise zwischen DDR-Führung und DDR-Volk mit unheimlicher Dramatik offenbart, kann Honeckers „Beauftragter für humanitäre Fragen“ nicht eigenhändig Antworten geben, für die allein das Politbüro zuständig ist. Wie ich ihn kenne, wird er dennoch nicht aufgeben. Wenn aber Honecker am Ende seines Lateins ist, wird auch Vogel nicht weiterwissen.
War jahrzehntelang die Ost-Politik geprägt vom „Wandel durch Annäherung“, fragt man sich heute, ob ein Paradigmenwechsel bezogen auf die DDR zumindest ansteht. Ist Bahrs und Gaus‘ Politik am Ende?
Das von Bahr damals in Tutzing entwickelte Konzept gründete sich auf die Annahme, daß nicht wir allein die Feindbilder vom Nagel nehmen, sondern daß auch die DDR-Führung gleichwertige Beiträge zur allmählichen Entwicklung einer vernünftigen Nachbarschaft beisteuern müsse. Als Erhard Eppler und Otto Reinhold das „Gemeinsame Papier“ von SPD und SED nach langen und mühsamen Gesprächen verabschiedet hatten - und das ging nur, weil Honecker es gut fand und gegen eigene Kritiker verteidigte - schien mit der Anerkennung des Prinzips vom Wettbewerb der Ideen auch im eigenen Land ein schönes Zeichen der Hoffnung aufgerichtet. Für die Falken in Ostberlin, zu denen ja auch - von uns im Westen oft kaum beachtet - einflußstarke, neodogmatische FDJ-Yuppies gehören, ist dieses Papier inzwischen schon Konterbande des Klassenfeindes.
Grundsätzlich sehe ich keine Alternative zu Bahrs Maxime. Wer jetzt auf die Idee verfällt: „Die sind schwach, die werden immer schwächer, denen laufen die Menschen weg, darum nachsetzen und feste Druff“, der hantiert mit der Lunte am Pulverfaß. Mag sein, es gibt solche, die daran sogar Vergnügen fänden. Eines allerdings muß klar sein: Weiterreden, weiterargumenterien kann heute nicht heißen, daß wir mit denen eine Komplizenschaft eingehen - oder auch nur den Anschein solcher Komplizenschaft erwecken -, die es durch ihre Politik geschafft haben, daß viele Menschen in der DDR bei dem Wort „Sozialismus“ nur noch höhnisch lachen.
Haben Sie eine Idee, wie die CDU aus ihrem ideologischen Dilemma herauskommen will, die Flüchtlinge nicht zu wollen und gleichzeitig an der Einheit festzuhalten?
Unter einem Parteivorsitzenden Helmut Kohl wird dieses Dilemma andauern, da ändert sich gar nichts, weil er ein selbstkritisches Nachdenken über diesen Widerspruch im eigenen Kopf nicht zulassen will. Deutschlandpolitik, vermute ich, hat ihn zu keiner Zeit innerlich stark bewegt, er stammt ja auch nicht aus Halle. Deutschlandpolitik wird von ihm wesentlich unter innen- und wahlpolitischen Gesichtspunkten gedacht. Dabei weiß er, tief in der Brust, daß das Wiedervereinigungsgebot in der Grundgesetzpräambel von der Geschichte der letzten vier Jahrzehnte ausgehöhlt worden ist, und künftig kein Ansatz für eine den Deutschen in den beiden Staaten helfende Politik des Ausgleichs sein kann. Doch die immer noch ziemlich starke rechts -konservative Wählerschar, auf die er sich angewiesen glaubt, hält ihn als Geisel. Sie hätten ihn am liebsten füseliert, als er Honecker in Bonn mit militärischen Ehren empfing.
Herr Bölling, ist der DDR im Augenblick überhaupt noch zu helfen?
Die alten Männer und die jüngeren Scharfmacher und Karrieristen in der SED lassen an die Sonthofen-Strategie von F.J. Strauß denken. Offenbar muß für diese Leute alles noch viel schlimmer kommen, ehe es besser werden kann. Mir kommen die wie politische Autisten vor. Wir, im Westen, sind in diesen Tagen auf die traurige Rolle von hilflosen Helfern verwiesen. Natürlich sollten wir nicht aufhören, zur Vernunft zu mahnen. Doch weder mit einer förmlichen Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft noch mit einer Präambel-Diskussion vermögen wir im Augenblick etwas auszurichten. Schon gar nicht sollten wir die DDR-Deutschen, die ihren Staat verlassen, als Störenfriede denunzieren. Darin liegt schlimme Arroganz.
Sie haben doch sicherlich als ehemaliger Botschafter in Ost -Berlin noch Kontakte in die DDR. Welchen Eindruck haben Sie von Gesprächspartnern dort?
Ich kenne genug Hardliner, suche aber nicht mehr das Gespräch mit ihnen, weil das doch nur zu einem sinnlosen und deprimierenden Schlagabtausch gerät. Jene SED-Mitglieder, die zu selbstkritischem Denken fähig und bereit sind, wünschen sich einen DDR-gemäßen Gorbatschow, der von dem heruntergekommenen „real-existierenden Sozialismus“ rettet, was gerade noch zu retten ist. Den können sie aber nicht benennen. Mit vielen DDR-Deutschen, die keine Parteimitglieder sind und dennoch bereit waren, aus diesem Staat etwas Gutes zu machen, trotz aller Handikaps, nämlich eine von den Menschen akzeptierte und gestützte Alternative zur Bundesrepublik, teilen diese Kommunisten das Gefühl einer immer noch wachsenden Mutlosigkeit. Ein Staat, der bei jedem friedlich gemeinten Protest junger DDR-Bürger sogleich die Stasi-Lederjacken aufmarschieren läßt, darf sich nicht wundern, wenn sich auch bei denen, die bleiben und mitgestalten wollen, die Motivation verflüchtigt. Honecker selber, den ich nach dem Krieg als aufrichtigen, idealistischen Antifaschisten kennenlernte, wird nicht länger von harter Kritik verschont. Viele glauben, daß er ein Fremder im eigenen Land geworden ist, isoliert von der Wirklichkeit und von den „real existierenden“ Menschen in seinem Staat.
mtm
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