DDR-Massenflucht mit Bonner Hilfe

■ Bonn, Wien und Budapest wußten schon vorher von der spektakulären Massenflucht der DDR-Aussteiger aus Ungarn nach Österreich / Ungarische Grenzer halfen beim Übertritt / BRD-Botschaft in Wien schickte wartende Busse zur ungarisch-österreichischen Grenze

Sopron/Berlin (taz) - Mehr als 500 DDR-Aussteigern ist am Samstag die größte Massenflucht seit dem Bau der Berliner Mauer gelungen. Sie nutzten eine gemeinsame Veranstaltung der Paneuropa-Union und des ungarischen Demokratischen Forums an der ungarisch-österreichischen Grenze zur Flucht und gelangten so völlig unbehelligt ins kapitalistische Nachbarland.

Doch was zunächst nach einer Überrumpelung der ungarischen Grenzer aussah, stellte sich gestern als eine von allen Seiten geplante Aktion heraus. Bonn, Budapest und Wien waren über die Massenflucht schon im voraus informiert und trafen entsprechende Vorbereitungen.

Die ungarischen Grenzsoldaten ließen die Massenflucht offenbar nicht nur zu, sondern halfen auch noch den DDR -Bürgern dabei. Ex-DDR-Bürger berichteten, daß die Beamten ihre bundesdeutschen Pässe stempelten, die ihnen vorgelegt wurden, obwohl in den Dokumenten die eigentlich notwendigen ungarischen Einreisevermerke fehlten. Im staatlichen ungarischen Fernsehen hieß es, die Grenzsoldaten hätten den DDR-Bürgern sogar noch den Weg nach Österreich gezeigt. Hunderte aus Ungarn angereiste DDR-Aussteiger mischten sich unauffällig in die Menge der an der Grenze bei Sopron versammelten Österreicher und Ungarn und spazierten durch ein offenstehendes Grenztor wie selbstverständlich auf österreichisches Gebiet.

Offiziell verurteilte die ungarische Regierung die Aktion. Im Rundfunk hieß es gestern, das Vorgehen der DDR-Bürger sei eine grobe Grenzverletzung. Man hätte die Massenflucht nur mit Schußwaffen verhindern können, aufgrund der neuen Vorschriften jedoch darauf verzichtet. Die ungarische Nachrichtenagentur 'MTI‘ zitierte einen Bericht des Innenministeriums, nach dem die Grenzsoldaten „auf Grund der politischen Ansicht Ungarns über seine Grenze und der Bedeutung der Versammlung auf die Verwendung ihrer Waffen verzichtet haben“.

Doch Beobachter verwiesen darauf, daß Ungarn keinerlei Vorkehrungen traf, um die Massenflucht zu stoppen. Es könne kein Zufall sein, daß kurz vor Öffnung des Grenztores ganze fünf ungarische Grenzwächter anwesend waren. Am Samstag abend war die Grenze wieder dicht. An der Zufahrtsstraße patroullierten zusätzliche Soldaten, die jeden Fußgänger und jedes Auto anhielten.

Die Flüchtlinge hatten durch Flugblätter des ungarischen „Demokratischen Forums“ sowie Gerüchte, die in Budapester Flüchtlingslagern kursierten, von der Aktion erfahren. Gestern in Gießen eingetroffene BRD-Neulinge berichteten, daß der Tip aus der BRD-Botschaft in Budapest kam. Fortsetzung auf Seite 2

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Die bundesdeutsche Botschaft in Wien war nach Angaben des Bonner Auswärtigen Amts auf die Massenflucht vorbereitet. Auf österreichischer Seite wurden die DDR-Aussteiger von Bussen erwartet, die die Botschaft gechartert hatte. Die meisten von ihnen wurden noch in der Nacht mit Omnibussen und einem Sonderzug in verschiedene Notaufnahmelager gebracht. Die Bonner Vertretung in Wien arbeitete nach Worten von Außenamtssprecher Hanns Schumacher mit einem Sonderteam.

Britische und französische Diplomaten halfen ihren bundesdeutschen Kollegen bei der Bewältigung

des Ansturms. Als „prächtiges Beispiel guter Nachbarschaft“ lobte Schumacher die Mithilfe der österreichischen Behörden. Insgesamt wurden auf diese Weise 661 Flüchtlinge in die BRD geschleust. Die DDR-Medien berichteten bis Sonntag abend mit keinem Wort über die Massenflucht.

Die Lage der 116 Ausreisewilligen in der Ständigen Vertretung in Ost-Berlin war nach Angaben von Sprecher Eberhard Grashoff gestern unverändert. Die Nachrichten von der Massenflucht aus Ungarn hätten die DDR-Bürger „mit großem Interesse“ verfolgt. Die ungarischen Behörden teilten am Samstag mit, daß die Grenzwachen in diesem Jahr bereits 4.363 DDR-Bürger beim versuchten Grenzübertritt nach Österreich ertappt haben, davon allein

2.000 im August.

Das ungarische Außenministerium bestätigte, daß DDR -Botschafter Gerd Vehres am Freitag erneut einbestellt worden war. Es hieß, Vehres habe dabei wiederum erklärt, die Rückkehr der DDR-Bürger in ihr Land sei die einzige Möglichkeit zur Beilegung der Krise. Er habe versichert, Heimkehrer hätten in der DDR „keinerlei nachteilige Folgen“ zu befürchten.

Gegenwärtig sind etwa 300 DDR-Bürger in Privatquartieren in Budapest untergebracht, weitere 400 befinden sich im Lager des Malteser Hilfsdienstes. 171 Menschen sitzen in der BRD -Botschaft fest. Helfer schätzen, daß rund 3.000 Menschen in Ungarn untergetaucht seien.

BRD-Kanzeramtsminister Rudolf Seiters bezeichnete es bei einem Be

such im Aufnahmelager Gießen als „ganz wichtige nationale Aufgabe“, alles zu tun, „um den Boden zu bereiten, damit hier schnell geholfen wird“. Zur Zeit gebe es keinen neuen Gesprächstermin mit der DDR-Führung. „Die DDR muß wissen, daß ein Andauern dieser Situation ihr internationales Ansehen mehr schädigt als ohnehin schon“, sagte der Kanzleramtsminister. Die Grünen unterstrichen gestern die Notwendigkeit einer schnellen politischen Lösung des Flüchtlingsproblems. Die Bundestagsabgeordnete Karitas Hensel kündigte nach Gesprächen mit den DDR-Bürgern in der Budapester Botschaft, Diplomaten und Vertretern des ungarischen Außenministeriums eine parlamentarische Initiative an, um den Verhandlungsauftrag der Bundesregie

rung mit der DDR-Führung zu konkretisieren.

klh/beba