„Wir müssen die Flüchtlinge aufnehmen“

Interview mit dem AL-Abgeordneten Michael Cramer / Widerspruch gegen die „Das Boot ist voll„-Politik des GA / DDR-Bürger haben das Recht auf Flucht  ■ I N T E R V I E W

Wenn DDR-Bürger in den Westen übersiedeln, sollen sie wie Ausländer behandelt werden, forderte letzte Woche der Geschäftsführende Ausschuß (GA) der AL. Bei übergesiedelten DDR-Bürgern hat der Vorschlag bereits heftige Proteste ausgelöst. Obwohl die meisten ALer noch im Urlaub sind, regt sich jetzt auch Widerspruch in der Partei.

taz: Ist es Mehrheitsmeinung in der AL, daß DDR-Bürger, die hierherkommen, nicht mehr automatisch einen bundesdeutschen Paß bekommen?

Michael Cramer: Das kann man überhaupt nicht sagen, weil darüber in der Partei noch nicht diskutiert wurde. Das ist bislang die Meinung des GA, der in nicht vollständiger Besetzung darüber beraten hat. Ich bin anderer Meinung.

Aus dem Interview, das Peter Lohauß der taz gegeben hat (siehe taz v. 19. August, d.Red.) geht hervor, daß man verhindern will, daß die DDR-Bürger zu uns kommen, weil wir glauben, wir können sie nicht verkraften. Daher wird die Unterscheidung gemacht zwischen Wirtschaftsflüchtlingen und politischen Flüchtlingen. Diese Unterscheidung haben wir in der Vergangenheit immer bekämpft, und ich werde mich dafür einsetzen, es auch in Zukunft zu tun.

Die AL war ja immer für offene Grenzen. Würdest du also den vielen DDR-Bürgern, die ausreisen wollen, sagen: „Kommt alle her“?

Natürlich gibt es irgendwo eine Belastung. Aber es muß darum gehen, wer für die momentane Situation verantwortlich ist. Und deshalb kann ich nicht diejenigen verurteilen, die im Moment die Chance sehen, ihre Lebensperspektive zu verbessern und über Ungarn abzuhauen. Die nehmen ein Individualrecht in Anspruch, das für uns eine Selbstverständlichkeit ist, und das sollen sie auch haben. Verantwortlich für diese Zustände ist einzig und allein die Regierung in der DDR. Wenn wir also wollen, daß die Leute in ihrem Land bleiben - und das wollen wir ja auch für die Flüchtlinge aus anderen Ländern -, dann müssen sich die Verhältnisse dort ändern. Die DDR kann sich nicht weiter den Reformbestrebungen widersetzen, wie sie in Ungarn, der Sowjetunion in Polen schon angegangen werden.

Deine Parteikollegen argumentieren, daß die Flucht in den Westen ja gerade das Entstehen einer DDR-Reformbewegung verhindert, weil die potentiellen Oppositionellen ausreisen.

Man kann ja darüber streiten, ob es dem imaginären Reformprozeß dient oder nicht, wenn die Leute dableiben oder abhauen. Aber ich von meiner sicheren Position aus kann diesen Menschen nicht vorschreiben, was sie zu tun haben. Denn wenn sich rausstellt, unsere Position ist falsch, dann müssen sie die Lasten tragen. Wenn ich die Sicherheit hätte, daß in einem Jahr in der DDR Reformen durchgesetzt werden, die das Leben dort radikal verändern und die staatliche Gängelung dort aufhört, dann könnte man darüber spekulieren.

Gibt es im Moment für die AL Handlungsbedarf in der Deutschlandpolitik?

Alle Parteien müssen ihre Deutschlandpolitik überprüfen, natürlich ist ein Handlungsbedarf da. Was in den siebziger, achtziger Jahren richtig war, die Politik der kleinen Schritte auf Veränderungen, ist nicht automatisch für die neunziger Jahre richtig. Es hat sich weltpolitisch viel verändert, es gibt keinen Ostblock mehr. Insofern muß ich die DDR anders behandeln. Und vor allem muß ich diejenigen, die die Reformen mal tragen sollen, sei es in der Partei, die ich zur Zeit nicht sehe, oder in den kleinen Grüppchen, unterstützen.

Die AL hat doch, genauso wie die Grünen, keine Konzepte für ihre konkrete Deutschlandpolitik.

Sie hat ein Konzept, das aber nicht in der aktuellen Situation entwickelt wurde und deshalb überdacht werden muß.

Ist es denn im Moment überhaupt wichtig für die AL, über die Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft zu diskutieren?

Diese Vermischung von Flüchtlingspolitik, Deutschlandpolitik und Reformpolitik, halte ich für falsch. Denn dann sieht das leicht so aus: Die AL will die Leute nicht hier haben und versucht das so hinzustellen, daß sie ja eigentlich den Reformprozeß in der DDR stützen will. Aber im Grunde steht dahinter: Das Boot ist voll. Und das wird die AL nicht sagen.

Wie wird die AL weiter über das Thema DDR-Übersiedler diskutieren?

Zunächst muß die AL zu den Flüchtlingsströmen über Ungarn Stellung nehmen. Wir müssen die Ursachen benennen, und die sind weltweit für Flüchtlinge gleich: daß sie gezwungen werden, ihr Land zu verlassen, weil die Verhältnisse dort so unerträglich sind. Und wir müssen dafür sorgen, daß die Verhältnisse anders werden. Und solange das nicht so ist, müssen wir die Flüchtlinge aufnehmen.

Interview: mow