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Vier Stunden Urlaub vom DDR-Alltag

Westdeutsche Rockmusiker tourten eine Woche lang durch die DDR / 20.000 Jugendliche beim Abschlußkonzert in Ost-Berlin / Ausreisewelle kein Thema / Bundesdeutsche RocksängerInnen klagen über brachiale Interpretation ihrer Texte durch das Publikum  ■  Aus Ost-Berlin Axel Kintzinger

Können bundesrepublikanische Rockmusiker in diesen Tagen in der DDR auftreten, ohne mit ihren Texten Assoziationen an die aktuelle Diskussion über den Zustand der DDR -Gesellschaft zu wecken? Ja und nein. Acht Bands tourten sechs Tage lang durch die DDR-Provinzen, Dienstag abend veranstaltete die FDJ das Abschlußkonzert im Ostberliner Bezirk Weißensee. Mitorganisatorin war unter anderem die Hamburger Kulturbehörde; der Norddeutsche Rundfunk steuerte 150.000 Mark für Übertragungsrechte bei.

Gegen den Wunsch der DDR-Offiziellen hatten sich die West -Musiker dabei mit ihrer Forderung durchgesetzt, die Zusammenstellung ihrer Titel allein zu bestimmen. Im Gegenzug hielten sich die bei uns nicht sonderlich erfolgreichen Bands mit politischen Zwischenmoderationen zurück. Dennoch: Selbst unverfängliche Verse, Begriffe wie Mauer und Grenzen oder das alleinige Benennen der Städtenamen Warschau, Moskau oder Budapest lösten Gejohle und frenetischen Beifall aus.

Heinz-Rudolf Kunze, singender Lehrer aus Osnabrück und Top -Act der „Rockpoetentournee“, forderte diese Reaktionen geradezu heraus. Zu seinem Repertoire gehörte sogar ein eigens für die DDR-Tournee verfaßtes Gedicht über die SED -Nomenklatura - ohne sie jedoch beim Namen zu nennen. Aber in der DDR ist man geübt im Erkennen von Zwischentönen. Auch wenn sie gar nicht so gemeint sind.

Das mußte auch die Mannheimer Rocklady Jule Neigel vor 40.000 Zuschauern bei ihrem Auftritt in Magdeburg leidvoll erfahren: „Da singe ich etwas über eine alte Zeit, die nicht wiederkommen darf, und in den ersten Reihen des Publikums brechen die Leute in Tränen aus.“ Ulla Meinecke zieht Konsequenzen aus dieser Erfahrung. „Ich trete erst mal nicht wieder in der DDR auf“, klagte die Sängerin über das Publikum: „Die haben wirklich alles auf die politische Situation gemünzt. Damit kann ich gar nicht umgehen.“

Die anderen Künstler waren froh, überhaupt vor so vielen Menschen auftreten zu können. Oder wer kennt im Westen schon Stefan Stoppok? Auch in der DDR kannte den Ruhrgebietsrocker bisher kaum jemand. Jetzt kennen ihn Hunderttausende. Glaubt man dem westdeutschen Kabarettisten Ingolf Lück, ist Stoppok einer aus der „creme de la creme der bundesdeutschen Rockszene“. Wegen Stoppok waren die 20.000 am Dienstag abend auch nicht nach Berlin-Weißensee gekommen. Auch nicht wegen Jule Neigel, einer auf Katharina Witt getrimmten Mannheimer Sängerin - nein, die Ost-Berliner Popfans kamen allein wegen Heinz-Rudolf Kunze. Dessen Lieder kannten sie auswendig, und von ihm erhofften sie sich spitze Worte zur aktuellen deutschlandpolitischen Situation.

Kunze nutzte als einziger bewußt die Chance, sein Programm selbst zu gestalten. An die freiwillige Selbstkontrolle, keine politisch anstößigen Äußerungen zwischen die Lieder zu streuen, hielt sich ansonsten nur Moderator Ingolf Lück nicht. Aber auch seine Witze über die Versorgungslage schreckten in Weißensee nicht einmal mehr die blaubehemdeten FDJ-Ordner auf. Auch sie lachten über das Lob auf eine DDR -Spitzenleistung: „Super - Ihr habt das härteste Klopapier der Welt!“

Trotz frenetisch bejubelter Anspielungen von Kunze „Frieden, Frieden, Himmlischer Frieden!“ - stimmte die momentane westliche Sicht auf die DDR nicht überein mit der Realität auf dem Festivalgelände. Der Ausreisewunsch als Thema Nummer eins bei DDR-Jugendlichen? Zumindest nicht an diesem Abend. Selbst von Kunzes kleinen Provokationen erhoffte sich niemand ein Fanal. Die Stimmung drohte nie überzuschwappen. „Fast beängstigend diszipliniert“ fand ein Musiker das Verhalten der DDR-Fans. Kein Wunder: Der Biervorrat war begrenzt, und ohne Alkohol fehlen die Festival-typischen Alkoholleichen. Auf mitgebrachten Wolldecken oder Klappstühlen sitzend, war es am Dienstag für die meisten ein wenig aufregendes Abendvergnügen. Immerhin aber ein Ausflug aus dem Alltag. Wenn die jungen Männer ihre Angebeteten auf den Schultern trugen, damit sie besser sehen und mit den unvermeidlichen Wunderkerzen wedeln konnten, schien ihnen die staatliche Gängelei egal. Und der graue Alltag verschwand hinter den bombastischen Lichtgewittern ebenso wie die öde „Stimme der DDR„-Propaganda hinter dem exzellent abgemischten Sound. Wenigstens für vier Stunden.

Das ließen sich die Fans sogar einiges kosten. 25 Mark Eintritt für eine Ansammlung westdeutscher B-Gruppen zahlt man in der DDR sonst nicht. Das Verlangen nach Reise- und anderen Freiheiten wurde beim Konzert der westdeutschen Rockgruppen von dem Wunsch überlagert, die Top-Bands aus der BRD zu sehen. Doch darauf werden sie noch lange warten müssen. BAP ist den DDR-Offiziellen zu heiß, und Herbert Grönemeyer verlangt zuviel Geld. Aber: Wofür gibt es das Radio? Das sendet zwar nichts von Stefan Stoppok, aber der kommt bestimmt bald wieder in die DDR.

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