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Aus der Vorschule des Kapitalismus

Ein Besuch in Budapest zum Nationalfeiertag / Bei McDonald's herrscht mehr Andrang als vor der deutschen Botschaft / Ungarische Trickbetrüger nehmen TouristInnen aus / Allerorten studiert man Detailkarten vom Grenzgebiet  ■  Aus Budapest Thomas Böhm

Was für eine herrliche Aussicht. Ich sitze mit Hänsel und Gretel auf der Veranda eines alten Hauses, dessen von Einschüssen durchlöcherte Fassade unter Denkmalschutz steht. Unter uns breitet sich das dunstige Panorama von Budapest aus. Noch immer fließt die Donau gegen den Flüchtlingsstrom stromabwärts. Wir sehen die Spiten der Mathiaskirche mit steinernem Gesicht blickt die Freiheitsstatue in Richtung Rumänien. Am Wiener Tor und auf der Kettenbrücke herrscht wie jeden Morgen reger Verkehr. Selbstbewußt jagen die Trabis und Skodas die mit ausländischen Kennzeichen markierten Schlitten durch Pest in die kleinen Gassen der alten Stadt.

Hänsel und Gretel müssen zur Arbeit. Beide sind vom Prenzlauer Berg gestiegen und leben seit Juni in Budapest. Hänsel ist Grafiker und verkauft seine modernen Postkarten an der Vaci Utca. Gretel bringt in einer privaten Schule jungen UngarInnen Deutsch bei. Vielleicht wollen sie irgend wann mal zum Pfefferkuchenhäuschen. Die Lemminge lassen sie allerdings erst einmal vorbeiziehen und studieren hier in der Vorschule zum Kapitalismus den Überlebenskampf.

Alleine schiebe ich mich durch die Massen auf der Vaci Utca. Fast jede Boutique akzeptiert „Creditcards“, jeden Scheißdreck kann ich hier mit „Visacard“ kriegen, außer einem Ausreisevisum, und Klopapier ist Mangelware, wie ich nach mehreren nervösen Rundgängen durch die Restaurants und Cafes feststellen muß. Vor den Benetton- und Addidas-Läden bilden sich lange Schlangen. Bei McDonald's herrscht ein Andrang wie vor der Deutschen Botschaft. Aber McDonald's hat immer offen und man erhält die amerikanische Staatsburgerschaft schneller als die deutsche.

Ich muß schwarz tauschen; der Kurs ist eins zu 40 auf der Straße. Hänsel und Gretel haben mir empfohlen, vorsichtig zu sein und mich vor Tauschbetrügern gewarnt. So stopfe ich mich in einen Korbsessel unter der Ballustrade eines Cafes und betrachte das rege Treiben auf der Vaci Utca. Neben mir streitet sich ein Ehepaar aus Sachsen um die neueste Ausgabe der 'Bild'-Zeitung. Ihre beiden kleinen blondgekämmten Töchter nuckeln gedankenverloren an einer gemeinsamen Limonade. Die Frau glaubt an das, was sie sieht und zeigt auf die vor Freude weinenden Flüchtlinge auf der Titelseite. Hoffnung leuchtet aus ihrem Gesicht. Der Mann ist skeptisch. Ein Botschaftsangehöriger hat ihn vor der 'Bild'-Zeitung gewarnt. Er möchte die neue Ausgabe des 'Stern‘ abwarten und dann erst die Taschenlampe kaufen.

Plötzlich fängt eine der Töchter an zu singen. „Tut, tut, tut, die Eisenbahn. Mit der kann man nach Halle fahr'n. Halle ist 'ne schöne Stadt, die ganz viele Häuser hat.“ Die Mutter stopft ihr den Sportteil der 'Bild'-Zeitung in den Mund, bevor dem kleinen Mädchen die zweite Strophe des alten Kinderliedes entweicht.

Fast direkt vor mir werden drei junge Burschen von einem Mann angesprochen, der gerne mit ihnen tauschen möchte und einen guten Kurs anzubieten hat. Nach kurzer Beratung raffen sie hundert Westmark zusammen. Der Mann holt seine Brieftasche hervor und zeigt vier Tausendforintscheine. Die drei Jungs fassen die Scheine mißtrauisch an, man hat ja schon einiges gehört und geben dem Händler dann ihr Geld. In diesem Augenblick entsteht wenige Meter neben ihnen ein Handgemenge. Zwei Männer scheinen sich prügeln zu wollen. Alle sind für kurze Zeit abgelenkt. Ich war gewarnt. Der Händler hat genau in diesem Moment die Brieftasche umgedreht. Die drei Jungs nehmen die „neuen“ Scheine an sich. Ein vierter Mann erscheint und fragt sie etwas. Der Mann ist verschwunden. Zu spät erkennen die jungen Männer, daß es sich um wertlose, weil alte Forintscheine handelt. Ihr Urlaub ist zu Ende.

Meine Nachbarn haben ihren Disput ebenfalls beendet und gehen ihres Weges. Dafür setzen sich zwei zerrissene Typen an den Tisch. Der eine trägt ein schmutziges T-Shirt mit der Aufschrift „Go West!“ - Das Bundesinnenministerium warnt: Ausreisen gefährdet ihre Gesundheit.“ Das Turnhemd seines Kollegen steht dem in nichts nach: Vorne sieht es aus, als ob es mit Einschußlöchern durchsiebt ist und hinten steht schwarz auf weiß: „Ich war in West-Berlin.“ Daß ich nicht lache.

Am Brunnen treffe ich Hänsel und Gretel wieder. Und noch ein paar Freunde stehen herum. Die einen kommen von der Grenze und sind fürchterlich betrunken, die anderen gehen heute nacht und sind noch nüchtern. Eine riesige Wandkarte wird ausgebreitet, auf der jede Grassode eingezeichnet ist. Es ist eine Kopie, oben im Lager bei der Kirch hat jeder gute Karten, aber keinen Trumpf in der Hand. Morgen früh wollen sich alle ihr Verpflegungsgeld abholen.

Gemeinsam schlendern wir runter zur Donau. Wir sind nicht die einzigen. Immer mehr Menschen treibt es ans Ufer. Überall kehren leuchtfarbene Uniformierte den Schmutz beiseite, werden an Stränden Erfrischungen und Süßigkeiten angeboten. Es naht der Nationalfeiertag, dem heiligen Stephan geweiht. Die UngarInnen haben sich eifrig herausgeputzt. Aber auch die Touristen bereichern die Szene. Ob Babys, Omas, Tanten, Onkel, Töchter, fast alle tragen Smiley-T-Shirts, die jungen Männer bevorzugen schwarz-rot -gold gestreifte Bermudashorts in der Kombination mit Römerlatschen oder Nike-Tretern.

Die Sonne ist schon längst über alle Berge. Die Lichter der Großstadt werden ausgeschaltet - die Lichter der Zukunft bleiben an. Für kurze Zeit sind die Leuchtreklamen von Shell, Pepsi und McDonald's unsere einzigen Orientierungspunkte, um im Gewühl der Millionen Menschen einen guten Platz zu finden. Mehrere Flagscheinwerfer beleuchten den Gellertberg. Auf ihm steht ein Gerüst, von den Russen erbaut, wird es jetzt endlich geküßt. Dann platzen die ersten Raketen. Das Feuerwerk beginnt. Die Stadt stöhnt, jauchzt und klatscht. Immer bunter, schöner und lebendiger wird der Himmel. Kanonendonner beendet das Spektakel, die Leute sind durchweg zufrieden, fast so glücklich wie nach der Feier zum zwanzigsten Jubiläum von Pepsi Cola, das im Juni dieses Jahres Tausende BudapesterInnen beim Gedenklauf zu Höchstleistungen antrieb.

Wir wollen auch noch etwas trinken. Im Fregatt, einem englischen Pub, bestelle ich mehrere Biere, kann sie aber nicht bezahlen. In der Euphorie muß mir jemand die Brieftasche, vollgestopft mit allem, was man heute so in Ungarn braucht um weiterzukommen, geklaut haben.

Die verzweifelte Suche nach meiner Staatsangehörigkeit führt mich am nächsten Morgen in die Berge. Hinter einem Strauch steht meine Hoffnung. Ein weißer VW-Bus, die mobile BRD-Botschaft. Als Schreibtisch dienen zwei Mülltonnen. Die Diplomaten sind freundlich und hilfsbereit und wünschen mir weiterhin alles Gute. Zum Glück habe ich noch eine Kopie der Wanderkarte.

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