: Auf den Grabbeltischen der Funkausstellung
■ Zuckerwerk für High-End-Freaks und Loseblatt-Prospekte-Jäger: Vinylstars müssen auf der Funkausstellung mit neuen Produkten probelaufen / Zwischen Freiverkehr und Händlerbereich mit den Musikern von Alphaville unterwegs auf der Funkausstellung
Die Sinnfrage stellt sich nicht gleich, schließlich ist es ein ganz normaler Arbeitstag. Alphaville, populärste deutsche Popgruppe der Mittachtziger und mit Forever young und Big in Japan weltweit erfolgreich, müssen sich auf der Funkausstellung präsentieren, so wie unzählige Gruppen, Sängerinnen und Sänger auch. Die größte Unterhaltungsmesse braucht bekannte und weniger bekannte Gesichter und Namen als Blickfang und Anheizer: Messegangstopper. Den Plattenfirmen gegenüber sind die Künstler vertraglich zur goodwill-tour mit neuem Produkt verpflichtet, und die Managements mühen sich schon Monate vorher, ihre Schützlinge vor fast jedem verfügbaren IFA -Mikrophon zu plazieren. Alphaville hat ein saisonables Produkt - die LP Breathtaking Blue - und ihr Manager Michael hat erfolgreich Sendeplätze aquiriert.
Kein Keyboard für SAT1
Erste Station an diesem Tag ist SAT1. Auf spendabler Bühne präsentiert sich die bunte Mischung: Junge Menschen in greller Sportswear aerobiken zum Batman-Soundtrack, Moderator Halle plaudert mit Farbtestprofessor Lüscher über hell- und dunkelblau, eine Sängerin, ganz frisch und unbekannt mimt Gesang. Manager Michael ist sauer, die Instrumente fehlen. Verabredet war - „schriftlich und mit Telefax-Bestätigung“ - Flügel, Keyboard und Mikrophon. Die Aufnahmeleiterin des Privaten gibt sich zerknirscht, ein Mikro sei da, aber sonst? „Dann besorgt euch doch schnell wenigstens ein Keyboard von der ARD.“ „Aber die rücken doch für die Privaten nichts raus.“ Der Manager wird aktiv, läßt seine Beziehungen spielen, Tele5 schickt die Dekotasten rüber. Marian, Ricky und Bernd - die Männer aus Alphaville sitzen derweil in der Maske und lassen sich die Nasen pudern. Alles geschieht zügig, ohne Worte, in hektischer Betriebsamkeit. Vor der Tür wartet schon der nächste, Drafi Deutscher versucht mit Bierdose in der Hand die letzte Nacht zu besänftigen.
Mit den Keyboards hat es geklappt, das Playback ist eingelegt, die Gruppe muß raus, absingen. Armin Halle beim anschließenden Talk ist eine Katastrophe, sein Spickzettel hat die Namen verwechselt, seine Informationen kommen aus dritter BRAVO-Hand. Er kann es nicht verbergen, daß ihn nichts interessiert. Marian lächelt geduldig, Ricky wirft sein langes Haar zurück. In der Abschiedsgeschenkschatulle vom KaDeWe - liegt ein Rumtopf. Antje, Bandmädchen für alles, verteilt Autogrammkarten unters Laufpublikum. Im Büro drängt Michael darauf, daß der Talk nicht gesendet werden darf. Irgendjemand signalisiert Einverständnis. Dafür strahlt die SAT1 - VIP-Lounge in spiegelnder Art-Deco -Eleganz, der Kaffee geht dreimal zurück, weil er schmeckt wie Spülwasser, und die Sponsoren prahlen in chicen Reklametafeln von der Wand: Jacobs, Henkell, Warsteiner. Die Serviererinnen müssen lächeln statt kassieren.
Susanne stellt sich vor als Susanne, duzt charmant, das konservative Rot ihrer Chiffonbluse leuchtet uns durch die verstopften Messegänge, ins Freie durch einen Seiteneingang zum wartenden Bus. Im Schrittempo geht es über das Gelände, zu irgendeiner Halle, durch irgendeinen Seiteneingang, durch Menschengedränge, über eine Absperrung eine Treppe hoch: Wir sind im Händlerbereich des japanischen Video-Konzerns JVC.
Model-Träume
Die Alphaville-LP wird messeneu präsentiert, mutiert als CD -Graphik. Auch bei JVC taugt der Kaffee nichts, dafür fließt der Multivitaminsaft in Strömen. Susanne geleitet uns eine andere Treppe wieder hinunter in den Freiverkehr, in einen halbdunklen Raum voller Zuschauer. Susanne moderiert auf kleinem Bühnenersatz, fragt Marian, Ricky und Bernd artig die Stationen ihrer Karriere ab, erzählt von ihrem Klavierunterricht, kommt zum Eigentlichen: die CD-Graphik. Aus den Lautsprechern fließt Alphaville-Musik, auf den Monitoren bauen sich schwarz-weiß Bilder auf und ab, untertitelt mit den Songtexten in deutscher Übersetzung. Was ist eine CD-Graphik? Wie spielt man die ab? Ein extra Abspielgerät? Gibts die schon im Handel? Braucht man das? „Hat noch jemand Fragen?“ fragt Susanne. Keiner fragt. Die Zuschauer drängt es wieder nach draußen, wenige bleiben und stehen an für ein Autogramm.
Zurück im Händlerbereich stülpt Susanne sich aus den Pumps und puhlt die Pflaster von den Fersen. Dritte war sie bei den Wahlen zur Miß Germany 1985, aber sie legt keinen Wert darauf, daran erinnert zu werden. Seitdem arbeitet sie für eine Agentur, läßt sich zur Produktpräsentation für Messen vermitteln, moderiert Modeschauen, und manchmal läuft sie noch selbst über den Steg. „Hier bin ich bloß die blöde Labertante“, aber ihr Ehrgeiz ist ungebremst, bei SAT1 will sie sich bewerben und bei Tele5, als Moderatorin: „Wahrscheinlich bin ich ganz schön vermessen, aber ich muß es wagen.“
Mit dem nächsten Taxi verschwinden Alphaville in die City zu einem Geschäftsessen mit dem Ex-Manager. Der Wochenplan der Gruppe ist zur Messezeit vollgefüllt: am Sonntag ein Auftritt für den Österreichischen Rundfunk, abends Party beim Musikverlag, am Montag die Premiere ihres Filmprojekts Songline, am Abend Essen mit den Moderatoren zur Vorbereitung des Talkshow-Auftritts im ARD-Jugendtreff, Dienstag Auftritt beim ZDF, danach Essen mit einem Vertreter der Plattenfirma, am Donnerstag Tele5, am Freitag RTL und ARD-Jugendtreff, samstags Flug nach Köln zum Auftritt im WDR -TeVau. „Da können noch einige Termine dazwischen rutschen“, Michael bleibt auch während der Messe rege und kontaktet nach allen Seiten. „Bei den großen Sendungen schicken wir schon lange vorher Bänder und Videos ein, um uns für Auftritte zu bewerben. Die kleinen Stationen fragen von sich aus bei uns nach.“ Alphaville werden vom Berliner Lunapark -Managment betreut, auch für Chinchilla Green, The Other Ones und Matador zuständig.
Playback schlägt zurück
Am Nachmittag treffen wir die Band wieder beim ARD -Jugendtreff. Alle in der ARD versammelten Sender haben ihr Youngster-Programm auf die Messe geschickt und sorgen im täglichen Wechsel für pausenlose Unterhaltung. Eine Million hat das ehrgeizige Projekt gekostet, allein die Graffiti -Bühne verschluckte 350.000. Der Bretterverschlag mit Spiegel unter der Bühne nennt sich Garderobe, eine Puderquaste zum Abtauchen der glänzenden Musikerstirnen borgt Antje sich bei SAT1, Getränke muß man sich selbst besorgen im Jugend-Cafe, gegen Bargeld. Gastgeber ist heute RIAS2. Auf der Bühne stehen wie verabredet zwei Keyboards, Ricky hat seine Gitarre mitgebracht, das Mikro für Marian ist zu: Mime total. Das Vollplayback dröhnt gegen die Zuschauerreihen, die Musiker simulieren Tastenspiel, Gitarrensolo und Gesang. Die Kameras, sonst einzig möglicher Sinngeber, den optischen und akustischen Betrug zu mildern, werden hier nicht gebraucht. Ratlose Gesichter im Publikum demonstrieren Irritation. Dafür ist Moderator Dorfmann zwischen den Musiktiteln gut drauf, quasselt beliebige Fragen runter mit viel Aufmerksamkeit für seine Uhr. Marian muß wieder vor das geschlossene Mikrophon für „Summerrain“.
„Bei diesem Titel höre ich genau rein, ich tauche ein und fühle mich dann wie auf einer Insel“, Marian läßt sich nach dem Auftritt erschöpft auf den Garderobenstuhl fallen: „Nur so läßt sich das durchstehen“. Ricky arbeitet mit einem anderen Trick: „Ich trage auf der Bühne eine Tarnkappe, damit bin ich gar nicht zu sehen.“ Wieder durch einen Seiteneingang nach draußen, ein komfortabler Kleinbus wartet und chauffiert uns zum letzten Termin beim Münchener Privaten Tele5. Die residieren beim japanischen Elektronik -Konzern Sharp, mit kleiner Bühne, gedrängten Zuschauerreihen, Büros und Garderobe auf minimalster Fläche.
Dichtgedrängt stehen nervöse Künstler entlang der Sperrholzwände hinter der Bühne und warten: auf Kaffee, auf die Maske, auf den Auftritt. Eine Autogrammsammlerin hat sich ins hektische Chaos durchgekämpft und grast mit Kladde und Kuli die Reihe ab: Alphaville, Spider Murphy Gang, Pierre Cosso, Nikki Costa. Vor den nächsten verharrt sie kurz, kommt zurück, fragt nach: „Wer ist das?“ „Das ist Playhouse.“ Sie zuckt abschätzig die Schultern und verschwindet wieder nach vorne.
Pausenclowns
Derweil sorgt sich ein quirliger Moderator um die richtige Stimmung backstage. Immer eine Hand am Sack probiert er lauthals die Witze für seinen nächsten Kameraauftritt: „Fährt ein Taubstummer mit Dachpappe unterm Arm zu seinem Vater nach Dresden. Was will er sagen? Dach Pappa.“ Vor dem Messepublikum wird's hoffentlich gelingen. Marian beugt sich über den Gang und vergißt die Umgebung: „Der Neptun-Mond Triton ist der einzige in unserem Sonnensystem, der seinen Planeten entgegen dessen Rotationsrichtung umrundet. Wußtest du das schon?“ Vier blondierte bayerische Bunthemden drängen sich dazwischen, die Playhouse-Burschen müssen zum Auftritt. Die Minibühne reicht kaum aus für die heftigen Tanzschritte des Sängers, drei Kameras treiben ihn zur völligen Street -dancer-Kopie. Sein Drang zum sofortigen Erfolg schwitzt aus allen Poren. Das Publikum ist begeistert, die Moderatorin nutzt die Stimmung zum Playhouse-Spiel. Wer das Lieblingsessen des Sängers errät, erhält ein Autogramm. Irgendeiner zwischen Boulette und Spaghetti gewinnt, die Jungs müssen raus, die Jahrmarktstimmung hält. Uschi Nerke, Beat-Club-Moderatorin von einst, kümmert sich um Alphaville. Ehe sie abgleitet ins Private - „Wann haben wir uns zuletzt in München gesehen?“ - greift die jüngere Kollegin ein und fragt zum letzten Mal das, was ihre KollegInnen vorher alle auch schon einmal gefragt haben.
Die Vertreterin von Tele5 stottert nervös in der Garderobe. Nein, das geht jetzt nicht live raus, ja, ich weiß, das war so verabredet, aber es hat sich geändert, nein, wir wissen noch nicht, wann es gesendet wird. Sechs bis acht Gruppen und EinzelinterpretInnen schleust sie pro Messetag hier durch: „Ich blick da nicht mehr durch.“ Wer sendet wen, wann, warum? „Vielleicht fragst du mal die Aufnahmeleiterin.“ Die hat kein Ohr frei und den Mund am Walkie Talkie, damit alles flotter geht, präziser, eindeutiger.
Später zurück in der Stadt am Kneipentisch kommen wir nicht mehr daran vorbei: „Was für einen Sinn macht das eigentlich?“ Marian vergräbt sich hinter grübelndem Reden und seinen Erinnerungen an die letzten Urlaubswochen in Italien, auf den Spuren von Michelangelo. „Früher, da haben wir uns geschworen, nie ein Interview für Springer oder BRAVO. Und das haben wir auch durchgehalten. Aber was haben wir heute gemacht? Wem gehört SAT1, wem Tele5? Springer? Kirch?“ „Und“, er ist niedergeschlagen, „erinnert ihr euch? Als wir von unseren ersten Fernsehauftritten träumten, wollten wir die Nachrichtensendungen besetzen und Wichtigeres durchsagen. Jetzt waren wir den ganzen Tag in dieser Maschinerie, und in den wenigen Minuten fürs Reden kommt immer nur das Gleiche. Aber was kann man überhaupt noch sagen? Gibt es noch etwas mitzuteilen?“ Ricky bleibt gelassener, Filmmusik möchte er machen, vielleicht sogar Filme. Das interessiert ihn. Bernd hat sich derweil ganz zurückgezogen, schnell nach Hause: „Da kommt das Wichtigste am Sonnabend, was ich nicht verpassen will.“ Um viertel nach sechs beginnt die Sportschau.
Elmar Kraushaar
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