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Jesse Jackson forderte: „Do the Right Thing!“

Schweigemarsch Zehntausender Menschen in Washington für Bürgerrechte / Oberstes Gericht hatte jüngst die Antidiskriminierungsgesetze aufgeweicht / Schon 1917 hatte es in New York einen Schweigemarsch gegen die Lynchjustiz gegeben  ■  Aus Washington Stefan Schaaf

Percy Squire, ein Stahlarbeiter im Ruhestand aus Youngstown/Ohio, war kurz nach Mitternacht aufgestanden. Um drei Uhr morgens hatte er mit einer Busladung Gewerkschaftskollegen der „United Steelworkers“ die 300 Meilen weite Fahrt von Youngstown in die Bundeshauptstadt Washington angetreten. Er war nur einer von vielen - mehrere hundert Busse kamen aus dem Staat New York, fünfzig aus Atlanta/Georgia, organisiert von schwarzen Kirchen und Universitäten, Gewerkschaften und Freimaurerlogen. Sechs Stunden später steht der Siebzigjährige auf der weiten Rasenfläche vor dem Kapitol und wartet darauf, sich in den Demonstrationszug einzureihen, der sich langsam hinter den Bannern verschiedener schwarzer Bürgerrechtsorganisationen zu formieren beginnt. Die größte und älteste von ihnen, die „National Association for the Advancement of Colored People“, NAACP, rief vor sechs Wochen auf ihrer 80. Jahresversammlung zu einem Schweigemarsch in der Bundeshauptstadt auf, um gegen eine Kette von jüngst verkündeten Urteilen des Supreme Court, des Obersten US -Bundesgerichts, zu protestieren.

Mehrere seit Jahrzehnten gültige Regeln zum Schutz von Minderheiten am Arbeitsplatz waren durch ihn ausgehöhlt worden. „Diese Urteile kann man nicht mehr aus der Welt schaffen, deshalb richten wir uns an die Kongreßabgeordneten und Senatoren, die daran etwas ändern können“, sagt Squire. Die NAACP, mit 400.000 Mitgliedern in allen 50 Bundesstaaten einer der bedeutendsten gesellschaftlichen Pfeiler der afroamerikanischen US-Bevölkerung, griff zu einer Demonstrationsform mit einer besonderen Tradition. Genauso wie 1917, als mehrere tausend Schwarze schweigend die Fifth Avenue in New York hinabmarschierten, um gegen Lynchjustiz und Rassentrennung in den Vereinigten Staaten zu protestieren, sollte auch dieser Marsch ein Schweigemarsch sein. Nur vom dumpfen Klang von Trommeln begleitet, zog die in Schwarz und Weiß gekleidete Prozession am Supreme Court vorbei, dessen Mehrheit sich im Laufe der Reagan-Jahre von einer liberalen zu einer konservativen gewandelt hat. „Wir verehren den Supreme Court als Institution“, so NAACP -Direktor Benjamin Hooks angesichts der jahrzehntelangen Unterstützung der Obersten Richter für den Bürgerrechtskampf schwarzer AmerikanerInnen, „aber wir kritisieren die jüngsten Urteile der Mehrheit.“

Joseph Rauh, einer der wichtigsten Anwälte der Bürgerechtsbewegung während der sechziger Jahre, beklagte das „juristische Lynchen unserer hart erkämpften Rechte durch den reaktionären Supreme Court, den uns Ronald Reagan und Edwin Meese hinterlassen haben“. Joseph Lowery, Mitstreiter Martin Luther King Jrs. in den fünfziger und sechziger Jahren und heute Leiter der von King gegründeten „Southern Christian Leadership Conference“, rief die Parlamentarier beider Parteien des Kongresses auf, die soziale Lage der Schwarzen mit ähnlicher Priorität zu behandeln wie die vielbeschworene „nationale Sicherheit“.

Doch Jesse Jackson warnte vor zu großen Hoffnungen in die Politiker und vor allem in die Bush-Administration, die von zahlreichen Bürgerrechtsorganisationen als Verbesserung nach der Reagan-Ära empfunden wird. Bush ernannte zwar einen schwarzen Gesundheitsminister und jüngst einen Schwarzen zum Stabschef der Streitkräfte, doch mangele es ihm an wirklicher Bereitschaft, durch Gesetze und Haushaltsmittel auch Schwarzen einen Teil an der „freundlicheren, gütigeren Nation“ zukommen zu lassen, für die er im Präsidentschaftswahlkampf warb. „Als der Oberste Gerichtshof die Lasten neu verteilte, blieben Bushs Lippen stumm“, so Jackson, der „eine Alternative zu diesem Präsidenten“ forderte, „einen Präsidenten, der mitfühlt, zuhört und zu uns spricht“. Jackson begann seine Rede mit einer Schweigeminute für Yusuf Hawkins, einen schwarzen Teenager aus Brooklyn, der vor einigen Tagen von einer Bande weißer Jugendlicher auf den Straßen New Yorks erschossen wurde. Der Verlust von teuer erkämpften Rechten sei allerdings nicht auf bestimmte Rassen beschränkt, so der von den DemonstrantInnen jubelnd begrüßte zweimalige Präsidentschaftsbewerber, er treffe genauso Gewerkschafter wie die Bergleute in Virginia, die Mechaniker bei Eastern Airlines oder die Angestellten mehrerer Telefongesellschaften, die zum Teil seit Monaten in Arbeitskämpfen engagiert sind. Er treffe Frauen, denen das Recht über ihren Körper streitig gemacht werde. Es gehe nicht um Fairneß, sondern um Macht, Macht, die in den Straßen und mit dem Stimmzettel gewonnen werden müsse. Für die MarschiererInnen gelte das gleiche wie für die Abgeordneten im Kongreß, peitschte Jackson in Anspielung an den jüngsten Film des populären schwarzen Regisseurs Spike Lee der Menge ein: „Do the Right Thing!“

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