piwik no script img

„Heim ins Reich“ - oder was?

Willi Brüggen, Vorstandsmitglied der AL, reagiert auf die deutschlandpolitischen Debattenbeiträge von Udo Knapp und Freya Klier  ■ D E B A T T E

In den Westen kommende DDR-Bürger sollen wie Ausländer behandelt werden. Mit diesem Vorschlag reagierte der Geschäftsführende Ausschuß (GA) der AL auf die jüngste Auswanderungswelle. Heftige Polemiken waren die Konsequenz. Und trotzdem, um was da gestritten wurde, blieb merkwürdig unklar. - Worum geht es? Neben der schon seit längerem von der AL geforderten Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft soll auch das „Einbürgerungsprivileg“ in Frage gestellt werden. Wer trotzdem „rüber will“, müßte einen Asylantrag stellen.

Was dies konkret heißt, ist nur vor dem Hintergrund der Forderungen nach offenen Grenzen und einer extensiven Bleiberechtsregelung zu verstehen. Dies bedeutet: Niemand kann abgeschoben werden, der im Falle seiner Rückkehr politische oder soziale Konsequenzen zu gewärtigen hätte, auch wenn er als politischer Flüchtling nicht anerkannt worden ist. Darüber hinaus sind allen hier lebenden Flüchtlingen uneingeschränkte Berufs- und Ausbildungschancen einzuräumen. Solange Republikflüchtlinge in der DDR mit Berufs- oder Ausbildungsverboten und politischen Sanktionen bedroht werden, käme somit eine Abschiebung nicht in Frage. Die DDR hätte es selbst in der Hand, durch entsprechende innere Reformen und Liberalisierungen die Auswanderungswelle zu stoppen. Von der Errichtung einer „zweiten Mauer“ kann also keine Rede sein. Aber im Falle innerer Liberalisierungen, die notwendigerweise mit freizügigerem Reiseverkehr verbunden wären, bräuchte die DDR nicht mehr zu fürchten, durch eine Massenfluchtbewegung die eigene staatliche Existenz aufs Spiel zu setzen.

Trotzdem stieß dieser Vorschlag auf zum Teil äußerst polemische Ablehnung. Freya Klier sprach von „Apartheidpolitik“. Udo Knapp rief zum Kampf gegen den „Stacheldraht“ im Kopf der Akteure. Michael Cramer sah die Grundlagen grün-alternativer Flüchtlingspolitik in Frage gestellt.

Was ist der Hintergrund dieser Polemik? Der Sache nach handelt es sich bei den Vorschlägen des GA nur um eine den neuen Umständen angepaßte Weiterentwicklung der bisherigen deutschlandpolitischen Grundpositionen. Bisher war klar: Die Wiedervereinigung kann nicht das Ziel linker, an Entspannung und Abrüstung interessierter Deutschlandpolitik sein. Freizügigkeit, politische Demokratisierung und ökologisch verantwortbare Industriepolitik sollten durch eine äußere Bestandsgarantie für die DDR erleichtert werden.

Durch die Fluchtbewegung der letzten Monate hat sich die Lage zugespitzt. Der Wunsch von mehr als 1,5 Millionen Bürgern, die DDR zu verlassen, droht deren ökonomische wie staatliche Existenzgrundlagen derart zu beeinträchtigen, daß alle inneren Reformschritte blockiert sind. Die deutschlandpolitische Grundlinie der AL schien nur noch haltbar zu sein, wenn auch das „Einbürgerungsprivileg“ zur Debatte gestellt wird. Ohne die humanitären Grundpositionen grüner Flüchtlingspolitik in Frage zu stellen, sollte der DDR eine auf die Zukunft und auf die Stärkung möglicher Reformkräfte zielendes Angebot gemacht werden.

Sozialistische Reform

oder Westintegration

Wie ist die schroffe Ablehnung dieses Vorschlags zu verstehen? Offenbar geht es nicht nur um die Frage der Staatsbürgerschaft - die deutschlandpolitischen Grundpositionen selbst stehen zur Disposition. Angesichts des fortgeschrittenen Erosionsprozesses „realsozialistischer“ Gesellschaften ist offenbar der Eindruck entstanden, als handele es sich bei einer Deutschlandpolitik, die auf die Erhaltung des Status quo und dessen innere Reformierbarkeit zielt, nur um eine lebensverlängernde Hilfestellung für eine historisch längst abgewirtschaftete Altherrenriege. Die entscheidende Frage aber lautet: Handelt es sich beim Reformprozeß in Osteuropa um einen Modernisierungsprozeß vor dem Horizont einer eigenständigen sozialistischen Entwicklungslogik, oder geht es letztlich doch nur um die Rückkehr ins westliche Lager? Träfe es zu, daß Demokratisierung und Modernisierung auf sozialistischer Basis unmöglich sind, würde dies bedeuten, daß in der DDR Perestroika nur um den Preis der Selbstauflösung zu haben ist.

Zu Recht räumt der „ZK-Chefideologe“ Reinhold unumwunden ein, eine kapitalistisch-parlamentarisch verfaßte DDR verliere ihr Existenzrecht. Ihre Legitimationsbasis ist einzig politischer Natur. Im Gegensatz zu Polen und Ungarn kann sie weder auf ethnische noch auf kulturhistorische Gründe zurückgreifen.

Wer jetzt von der DDR ultimativ parlamentarische Demokratie und Marktwirtschaft einfordert, spricht implizit von Wiedervereinigung auch wenn er diese nicht intendiert.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt kann niemand sicher vorhersagen, in welche Richtung der Reformprozeß geht, ob es zu einer Modernisierung auf sozialistischer Grundlage kommt oder ob am Ende nichts als die unterschiedslose Westintegration bleibt. Wahrscheinlich wird sich eine nach nationalen Bedingungen je unterschiedliche Vielzahl verschiedener Entwicklungsmodelle ergeben.

Bestandsgarantie

als Reformkatalysator

Trotzdem haben wir uns zu fragen, auf welche dieser Alternativen wir deutschlandpolitisch setzen wollen, welche uns wünschenswert erscheint. Wie würden wir reagieren, wenn sich angesichts ernsthafter Reformschritte und den damit verbundenen ökonomischen Verwerfungen weitere Millionen zur Flucht entschlössen?

Was wären die Konsequenzen einer krisenhaften Zuspitzung in der DDR, die schließlich das gesamte Staatswesen zur Disposition stellen würde? Welche Auswirkungen hätte dies auf den Reformprozeß in den anderen Ländern Osteuropas? Hat Reinhold nicht recht, wenn er darauf besteht, daß die Umgestaltung in der UdSSR nichts notwendiger braucht als einen relativ stabilen „westlichen Vorposten“, der sich um dieser Stabilität willen gegenwärtig nur sehr zögernd auf Reformen einlassen kann? Warum sind es gerade die Reformer in der UdSSR, die jetzt wieder die Anerkennung der DDR -Staatsbürgerschaft in den Vordergrund stellen?

Diese Fragen haben mit politischem Zynismus nichts zu tun. Sicher ist Politik immer auch eine Frage persönlicher Erfahrung und Betroffenheit. Unsere Erfahrungen mit 20 Jahren kaltem Krieg und antikommunistisch-großdeutscher Träumerei aber sind andere als die derjenigen, die jetzt „rübermachen“, weil sie den Mief, die Enge und das politische Lügensystem drüben nicht mehr ertragen können. Die bloße Identifizierung mit den Opfern hilft nicht weiter.

Dabei ist klar: Zwischenstaatliche Anerkennung darf die notwendige Solidarität und Unterstützung für oppositionelle Kräfte in der DDR nicht in Frage stellen. Dies schließt auch die kritische Auseinandersetzung ein. Allzuleicht wird der alte Fehler linker „Solidaritätsarbeit“, die selbstverleugnende Identifizierung mit den unmittelbar Betroffenen, wiederholt. Unsere Perspektve ist eine andere. Wir agieren als Bürger eines Staates, der sich noch immer in der Nachfolge des Deutschen Reiches sieht und dessen politische Kultur untrennbar mit dem Gedanken der Rückgewinnung des Ostens verknüpft ist. Vor diesem Hintergrund gerät jede ideologische Konfrontation allzuleicht zur Fortsetzung des kalten Kriegs mit anderen Mitteln. Wir können nur hoffen, daß in der DDR ein schrittweiser Transformationsprozeß möglich wird, der - ohne unvermittelten Bruch mit den Systemstrukturen - individuelle Freiheitsrechte, politische Partizipation sowie den ökologischen Umbau des Industriesystems ermöglicht. Diese Entwicklung hat die äußere Bestandsgarantie zur Voraussetzung und kann von hier vor allem durch gezielte ökonomische und ökologische Unterstützung befördert werden.

Die pharisäische Arroganz des guten Gewissens, mit der gegenwärtig die Flüchtlingsbewegung im bundesdeutschen Blätterwald kommentiert wird, verbirgt nur schlecht die in der Tat zynische Gleichgültigkeit gegenüber den konkreten Schicksalen sowohl derer, die bleiben, wie auch derjenigen, die sich zum Gehen gezwungen sehen. Sich auf die Schulter zu klopfen und zu sagen, die Ursachen der Auswanderungsbewegung, das sei nicht unser Problem - da müsse schon Honecker sehen, wie er damit zurechtkomme; im übrigen solle er mal endlich Reformen einleiten, dann löse sich alles von selbst -, ist politisch naiv und unverantwortlich.

Die unter anderem von Udo Knapp geforderte Respektierung der bestehenden Grenzen dementiert sich selbst, wenn sie gleichzeitig mit einer ideologischen Offensive verbunden ist, die faktisch auf die Existenzgrundlagen des anderen Staates zielt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen