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Der baskische Kreuzzug

■ ETA wird 30

Johannes Winter „4 + 3 1„

(baskische Wandparole, die politisch

Arithmetik von Euskadi-Utopia bezeichnend

4 spanische + 3 französische Basken

provinzen 1 vereintes Vaterland)

Sein Todestag ist ihr Geburtstag. Nicht von ungefähr trifft sich dies und ist, weil zutiefst katholisch, von hohem Symbolwert. Am 31.Juli 1556 starb der Baske und Gründer des Jesuitenordens (Societas Jesu/SJ), Ignatius von Loiola.

Am 31.Juli 1959 wurde ETA gegründet, von Studenten der Jesuitenuniversität Deusto in Bilbao; mit vollem Namen als „militärische, sozialistische, revolutionäre, baskische Organisation der nationalen Befreiung - Euskadi Ta Askatasuna“ (Baskenland und Freiheit).

Die mit 30 Jahren derzeit älteste Guerilla Europas hätte ihr Kürzel beinahe mit dem eines damals beliebten deutschen Putzmittels geteilt: ATA, baskisch „Aberri Ta Askatasuna“ (Vaterland und Freiheit), nach einem historischen Vorbild von 1910.

Doch ata ist auch das baskische Wort für „Ente“ und wurde verworfen; so blieb es bei eta, das schlicht „und“ bedeutet.

Der doppelte Festtag ist in diesem Sommer im Goierri, dem schwarzwaldähnlichen Hoch- und Hinterland abseits der Biskayaküste, zugleich Heimat des Loiola und ländliche Bühne von ETA, rituell und stillschweigend begangen worden. Nur ein Schild vor dem Ignatiusheiligtum verweist auf große Zeiten: 1991 werden Euskadi und die katholische Welt den 500. Geburtstag des Jesuitengründers feiern, der einst mit gnadenloser Selbstdisziplin und fanatischen Kreuzzug-Plänen antrat, die irdische Macht seiner Kirche und ihrer Vasallen zu mehren.

Die Maxime vom Zweck, der die Mittel heilige, stammt von ihm und ist auf Anhieb erfolgreich - ob bei der Conquista im fernen Südamerika oder der Inquisition in Spanien selbst gegen äußere und innere Feinde exekutiert worden; wenn es sein mußte, mit Gewalt.

Ein paar Dörfer entfernt von Loiolas Stammsitz - heute ein Wallfahrtsort, dessen prachtvolle Freitreppe alltags die Szene für Hochzeiter unter den Reissalven der Angehörigen abgibt -, zwischen Berg und tiefem Tal wird in diesen Tagen viel gefeiert, Ordizia heißt das Dorf.

Wie seit jeher wird das Übliche, Vertraute, Überkommene an heimischer Kultur aufgeboten, Trachten, Tänze, Trommeln und Pfeifen der Kinder, Reigen der Frischverheirateten; 480 Jahre alt, bemerkt die Lokalzeitung.

Anderntags steht bäuerlicher Wettkampf an, Steinewuchten, Holzhacken, ein Kampf zweier Hammel, Froschschenkel -Wettkochen mit Männern in der Arena wie beim Nationalsport Pelota. Folklore ist dies nicht, weil kein Tourismus auftritt, der nach echter Künstlichkeit lechzt.

Später folgt im Festprogramm eine Ehrung der Gefangenen, Flüchtlinge und Deportierten des Dorfes, nicht zuletzt zweier toter ETA-Kämpfer mit den noms de guerre „Xefe“ und „Txintxo“, veranstaltet von der örtlichen Initiative „Pro Amnestia“.

Ordizia (9.000 Einwohner) kommt offiziell auf neun Gefangene und sieben Flüchtlinge - der einzige Verbannte kam kürzlich bei einem Badeunfall auf den westafrikanischen Kapverden ums Leben: ETA-Mitglieder allesamt und „unsere Jungs“.

Es treten auf neben den Familienmitgliedern die bertsolaris, bodenständige Sänger, die im Duett die fernen Helden des Dorfes auf baskisch bedichten und vom Teufel „Madrid“ alias Staat alias Felipe Gonzalez und deren Streben künden, das baskische Vaterland zu vernichten. Amnestierufe werden laut, und eine vielstimmige Anrufung derer, die vor der beschworenen Apokalypse bewahren sollen, schließt die Feier: „ETA, matalos!“ - bring sie um!

Hier, im grünen Goierri-Hochland, ist baskische Tradition mit ländlicher Industrialisierung eine Verbindung eigener Art eingegangen. Tagsüber arbeiten die jungen Leute in Papier- oder Werkzeugmaschinenfabriken, deren Abwässer die Flüsse zu Kloaken machen. Den Lebensstil der Freizeit prägt die Großfamilie im erzbaskischen Bauernhaus (baseria) mit angestammten Plätzen in Kneipen und Kirche, umgeben von baskischem Brauchtum.

Dies ist die soziale Welt, in der ETA den Nachwuchs, das Aktionsfeld und die Solidarität zum Weitermachen vorfindet.

Ich bin nicht zufällig in Ordizia. Vor drei Jahren ist hier während des Dorffestes eine junge Frau durch zwei Kopf- und, am Boden liegend, einen sogenannten Gnadenschuß vor den Augen ihres dreijährigen Sohnes und Hunderter von Dörflern von einem ETA-Mann hingerichtet worden: Dolores Gonzales Katarain, genannt Yoyes, eine ETA-Aussteigerin.

Nach den Vorstellungen ihrer Mörder war sie eine Verräterin.

Ich beginne zu ahnen, nach dem Vortrag der Volkssänger und ihrer Ehrung der Helden des baskischen Unabhängigkeitskampfes, warum die ehemalige Mitkämpferin aus Ordizia totgeschwiegen wird, warum die Hauswände des Dorfes von den Verräterin-Parolen gesäubert sind, warum der Ort ihres Todes mitten im Dorf bar jedes Hinweises ist.

Der Mörder wurde, obwohl wie üblich „niemand etwas gesehen“ hatte, ein Jahr nach seiner Tat gefaßt. Die Polizeiaktion trug die befremdliche Bezeichnung „Operacion Akaitz“. Man war mit dem Vornahmen des Sohnes der Ermordeten auf Verbrecherjagd gezogen. In der Vorgeschichte des Mordes von Ordizia im September 1986 entdecke ich ein Detail. Vier Wochen lang druckte die Zeitung 'Egin‘, das Sprachrohr von ETA und ihren radikal-nationalen Sympathisanten, im August 1986 täglich ein Kapitel aus den Memoiren eines Dorfpriesters des Goierri.

In Fortsetzungen zu lesen war, was der Gottesmann mit dem schönen Namen Santa Cruz vor immerhin einhundert Jahren aufschrieb und was die Zeitung ihrer Leserschaft als politisch-pädagogische Handreichung nicht vorenthalten wollte. Unter der Parole „Gott, Helden und Verräter“ war der Seelsorger damals in die Karlistenkriege gegen Zentralspanien gezogen, allen voran mit einer schwarzen Fahne durch die Berge des Goierri, gegen ein Heer von Feinden:

Santa Cruz gegen Madrid, gegen den Liberalismus, gegen die Sünde, gegen die Freimaurerei, gegen das moderne Denken, gegen die Frauen, gegen das Tanzen und - vor allem - gegen den Verrat; des weiteren gegen die spanische Republik „aufgrund meines unauslöschlichen Hasses gegen den Parlamentarismus“.

Zugleich predigte Santa Cruz für die Exekution von Verrätern (einschließlich Absolution vom 5.Gebot), für den Einsatz sämtlicher junger Männer in der Guerilla sowie für „50 Stockschläge auf den Hintern für ledige Mütter, die sich an den jungen Männern vergreifen wollen“.

Die Liste der Parolen überdauerte ein Jahrhundert. Ihre Mischung aus politischem Konservativismus, unverhohlenem Sadismus und Frauenhaß wurde zu neuer Aktualität erhoben durch die ETA-nahe Zeitung 'Egin‘ und in Fortsetzungen serviert, zur Einstimmung auf den Mord an der Verräterin im Sommer 1986.

Der mächtige klassizistische Bau der Jesuitenuniversität von Bilbao liegt im Stadtteil Deusto, auf der rechten Seite des Flusses Nervion, auf der reichen Seite, wo hügelan die bürgerlichen Villenviertel der Stadt sind.

Gegenüber auf der linken Seite des Flusses dehnt sich kilometerweit das Industriegebiet des Hafens mit Schiffswerften und Eisenhütten. Es sind sterbende Wirtschaftszweige, die einst den Reichtum Euskadis ausmachten. Dahinter reihen sich die tristen Wohnblocks der Arbeiterfamilien. In den fünfziger Jahren - das Francoregime beginnt sich aus seiner politischen und ökonomischen Isolation zu lösen - wird Bilbao von einem Modernisierungsschub erfaßt. Neue Arbeitsplätze entstehen. Immigranten aus Südspanien ziehen zu, in der Hoffnung auf ein besseres Leben.

Im Baskenland, dessen Sprache, dessen Fahne und dessen Hymne verboten sind, macht sich Angst breit vor den Einwanderern, vor den Fremden, gesellt sich zum Haß auf die spanische Unterdrückung.

„Allein in Bilbao kommen monatlich mehr als tausend Fremde an. Diese spanische Invasion ist ein organisiertes Manöver der (spanischen) Regierung, um mit Euskadi Schluß zu machen. Die politische Situation unseres Landes ist einem Völkermord vergleichbar.“

Von derart ungezügelter Paranoia gekennzeichnet sind die Frühschriften einer Gruppe namens ETA, deren Mitglieder einstweilen, in den ersten Jahren nach der Gründung 1959, dem Studium an der Jesuitenuniversität in Bilbao nachgehen, das Heer der einfallenden spanischen Arbeiter vor Augen.

Der Geist ihrer Debatten, mit dem die Studenten politischer Unterdrückung und sozialem Umbruch Paroli bieten wollen, ist alt.

Er ist aus den Schriften des Sabino Arana gezogen. Arana, der Gründer der Baskischen Nationalpartei (PNV, auch sie datiert ihren Gründungstag auf einen 31.Juli) - von der sich die Studentengruppe gerade enttäuscht abgespalten hat, um ETA ins Leben zu rufen -, Arana war es, der um die Jahrhundertwende den modernen baskischen Nationalismus formulierte.

Der historische Chefideologe, kein einheimischer Arbeiter, sondern ein zugewanderter spanischer Reeder, wird von ETA sogleich hymnisch vereinnahmt.

„Über allem bleiben die wahren Ideale jenes Kolosses der baskischen Rasse, jenes Herzens, das den Weg weist zur Wiederauferstehung des Vaterlandes. Eine Mission, die wir zu erfüllen haben als Träger der olympischen Fackel mit der Verpflichtung für unser Vaterland.“ Gefunden und gelesen in der achtzehn Bände umfassenden Sammlung von ETA-Schriften Documentos Y.

Vor allem Arenas Schrift Die Reinheit der Rasse hat es seinen Epigonen noch 60 Jahre später angetan. Sie war entstanden als Reaktion auf die erste Industrialisierung des Baskenlandes um die Jahrhundertwende, auf die proletarischen Einwanderer aus dem spanischen Süden, auf gesellschaftliche Veränderungen.

Unsichere Zeiten waren es, die Arana mit dem Bild des verlorenen Paradieses zu bannen suchte, angefüllt mit den Mythen der Auserwähltheit: euskera, die uralte Sprache der Basken als Inbegriff ihrer Kultur; fueros, die von der spanischen Krone über Jahrhunderte verliehenen Sonderrechte, als Kern politischer Autonomie; roncevalles, die Schlacht in den Pyrenäen, als Symbol der Unbesiegbarkeit.

Den sozialen Umwälzungen begegnete Arana mit dem Konstrukt der Idylle eines baskischen Arkadiens bäuerlicher Prägung, seiner moralischen Überlegenheit gegenüber den Fremden aus dem Süden. Als Invasoren beschimpfte er sie und Kleinwüchsige (maketos) und „Landstreicher dieser degenerierten Rasse“.

Sozialistische Ideen der wachsenden Arbeiterbewegung waren für ihn des Teufels und der Streik ein „spanisches Laster“. Arana definierte:

„Die Basken sind von Natur aus keine Spanier, obwohl sie es faktisch sind. Die Elemente und Wesenszüge der baskischen Nationalität sind fünf: 1. Rasse, 2. Sprache, 3. Regierung und Gesetze, 4. Charakter und Brauchtum, 5. historische Persönlichkeit.“

Die Baskenfahne (ikurrina), ein Entwurf von Arana, symbolisiert das ideologische Fundament des baskischen Nationalismus, wie er im Kern bis heute lebt. Ein weißes Kreuz liegt über einer grünen Haspel auf rotem Grund, was die „Hoheit Gottes über Gesetz und Volk“ bedeute.

ETA nimmt im Sommer 1959 die politische Arbeit auf, wohlversehen mit den Ideen des Sabino Arana. Praktische Anweisungen hat der Baskenmentor nicht hinterlassen. Doch sein Nationalismusgebräu aus Rassismus und Religion zieht eine Gruppe von jungen Männer an, die besonders sensibel auf die Repression des Franquismus der fünziger und sechziger Jahre und auf die sozialen Veränderungen reagiert.

Seminaristen aus den zahllosen Ordenshäusern des baskischen Katholizismus und Priester aus dem niederen Klerus schließen sich ETA an. Die erste Führungsgeneration setzt sich aus Exjesuiten und Exbenediktinern sowie ehemaligen Priestern zusammen. ETA in ihrer Frühzeit ist ein männlicher Laienorden - so legt es auch ein Schulungsbrief der Organisation nahe: „Wie für die Kreuzfahrer des 10.Jahrhunderts die ihre so ist auch unsere Wahrheit absolut. Sie ist ausschließlich und läßt weder Zweifel noch Kritik möglicher oder tatsächlicher Gegner zu. Woraus folgt, daß wir in der Verfolgung unserer Idee, unserer Wahrheit und unseres Zieles gnadenlos sind.“

Daß es um nichts weniger als um die aufopferungsvolle Tätigkeit von nationalistischen Missionaren geht, beweist ein anderer früher Text aus der damals verbotenen, heute legalen ETA-Zeitschrift 'Zutik‘ (Aufrecht) über Die baskische Seele: „Wir müssen erreichen, daß alle Basken Patrioten sind. Es ist unbedingt notwendig, daß wir Basken uns allesamt darin einig sind, daß wir nicht als Volk untergehen dürfen.“

Es kommt nicht von ungefähr, daß die verbotene Baskenfahne zum ersten Objekt der agitatorischen Begierde erwählt wird. Am katholischen Feiertag der „Unbefleckten Empfängnis Mariens“ wird sie erstmals illegal gehißt - am Kirchturm von Tolosa, unweit von Ordizia.

Erste Geheimtreffen finden in Klöstern statt, nicht zufällig, denn der niedere Klerus beteiligt sich schon seit dem Bürgerkrieg am Widerstand gegen den Franquismus. Als Garant einheimischer Kultur trägt der Dorfpfarrer des Goierri sein Scherflein bei, der seit eh und je die Kirche als Versammlungsort und Zufluchtsstätte anbietet, wo das verbotene Baskisch nicht nur in Predigt und Gebet weiterlebt.

Zur Sonntagsmesse verhindert der Baskenpfarrer wie selbstverständlich, daß die verhaßte Spanienfahne aufgehängt wird, gewaltfrei wie die Parolenmaler von ETA.

Das Gründungsjahr der Guerrilla von Euskadi hatte jenseits des Meeres mit einem revolutionären Triumph begonnen. Fidel Castro und seine Guerrilleros waren im Januar 1959 siegreich im fernen Havanna einmarschiert und hatten Kubas Diktator von Amerikas Gnaden verjagt.

Die Emphase war nicht spurlos an der Baskenorganisation vorübergegangen. Die Dritte Welt, der Imperialismus, die bewaffnete Gewalt kamen in den Blick. Ein Buch, das Eigenes und Fremdes aufs griffigste zusammenfügt, öffnet den Weg zu neuen ideologischen Ufern.

Sind die Schriften des Arana die Bibel des baskischen Nationalismus, so wird das Werk des Fernando Krutwig, 1962 wegen der spanischen Zensur in Buenos Aires erschienen, zum Katechismus, zum Handbuch von ETA.

In Vasconia, einem 650-Seiten-Wälzer, der alsbald von einem ETA-Mann auf populäres Fibelformat verdichtet wird, erhält der moderne Radikalpatriotismus seine bis heute gültige Überhöhung. Das baskische Volk, so Krutwig, habe nicht nur das Recht auf den bewaffneten Kampf gegen die „Entnationalisierung“ durch Spanien und Frankreich; es habe auch die moralische Pflicht, bewaffnet gegen die damit einhergehende „Entmenschlichung“ zu kämpfen.

Die dafür Verantwortlichen auszulöschen, wie es bei Krutwig heißt, sei ebenfalls Pflicht. „Jeder Sohn des baskischen Vaterlandes muß Revolution, Terrorismus und Bürgerkrieg auf sich nehmen.“ Ziel des Kampfes sei die „Re -Nationalisierung“.

Krutwig ist wie Arana ein Sohn von Einwanderern; er wurde 1922 als Italodeutscher in Bilbao geboren. Er bedient sich einer rassistisch-sadistischen Sprache, plädiert für „Folter den Folterern“, Terror gegen Polizisten samt ihren Verwandten, Tötung der Frauen von Folterern, Entführung von Botschaftsangehörigen fremder Staaten, auch jenseits der baskischen Grenzen. Für ETA entwirft Krutwig auch die Taktik der „Spirale von Aktion-Repression-Aktion“ und verleiht dem baskischen Unabhängigkeitskampf die höheren Weihen der antikolonialistischen Dritte-Welt-Guerrilla. ETA wird der Weg des nationalen Befreiungskampfes mit dem Ziel der vollständigen Unabhängigkeit nach dem Vorbild Algeriens gewiesen.

Dort war drei Jahre vor Kuba der Sieg gegen die Kolonialmacht errungen worden.

Den Begriff der Rasse ersetzt Krutwig durch den weniger desavouierten der Ethnie. Die Basken, schreibt er, würden „ausgebeutet durch eine ethnische Gruppe von Parasiten“. Gemeint sind die spanischen Einwanderer.

Es ist, als habe ETA auf diesen Freibrief zur Gewalt gewartet. Von nun an dreht sich die Spirale von Terror und Rache, begleitet von Bekennerschreiben. Ein Krieg bricht aus, gnadenlos Auge um Auge, Zahn um Zahn. Die Francodiktatur wäre keine, würde sie auch nur einen Fußbreit weichen.

Die Folter in den Gefängnissen ist alltäglich.

Dreihundert Dorfpriester erheben öffentlich ihre Stimme: „Wir glauben, daß es eine Pflicht und eine biologische Notwendigkeit gibt. Deswegen klagen wir vor der ganzen Welt die Spanier an wegen ihrer Politik der Unterdrückung unserer ethnischen, sprachlichen und sozialen Eigenart, die Gott uns Basken gegeben hat.“

Totenmessen und Friedhofsfeiern für gefallene Kämpfer werden, schikaniert durch Guardia Civil und Polizei, zu regelmäßigen Versammlungen des Hasses und der Heldenverehrung.

Verdeckt bleibt, daß kein Dorf im Bergland ohne Trauer, kaum eine Familie ohne Schmerz über den Tod eines Sohnes lebt. Schuld sind die anderen, Madrid, Spanien. Das schweißt zusammen. Zumal als ETA anfängt, den schon von Pfarrer Santa Cruz verordneten, von Krutwig verschärften Umgang mit „Verrätern“ in ihren Krieg einzubeziehen.

Dissidenten sind damit gemeint, oder besser Häretiker. Die Todesstrafe, das letzte Mittel des Franquismus, wird übernommen und beibehalten. In Spaniens Demokratie ist sie abgeschafft. Im Baskenland gilt sie offiziös weiter, ob gegen Bürgermeister, Taxifahrer oder, wie zuletzt, gegen die Aussteigerin.

Die Funktion des bewaffneten Kampfes, verlautbart die Organisation auch noch in den achtziger Jahren, sei „nichts anderes, als das spanische Militär und die spanische Finanzoligarchie daran zu erinnern, daß das baskische Volk sich nicht ergibt; daß das baskische Volk diese ganze Plage satt hat, diesen Völkermord, die Teilung unseres Landes, die fehlende Anerkennung als Volk und die Ablehnung des Rechts auf Selbstbestimmung“.

Vierzehn Jahre ist der Diktator inzwischen tot, dessen designierten Nachfolger Carrero Blanco ETA spektakulär in die Luft gesprengt hatte. Seit über zehn Jahren ist Spanien auf demokratischem Weg.

Euskadi verfügt inzwischen über ein Autonomiestatut, eine eigene Polizei (ertzaintza), eigene Schulen (ikastolas), führt Baskisch als Amtssprache, die ikurrina als Nationalfahne, und Basken-TV sendet Pelota -Partien im Wechsel mit Dallas.

Fehlt zum autonomen Glück, fragt entnervt der baskische Philosoph, etwa noch das Recht der eigenen Münzprägung?

Für ETA ist gleichwohl alles schlimmer geworden. „Die in Madrid“ sind als „faschistische Francoerben“ abgestempelt; gemeint ist die sozialistische Regierung von Ministerpräsident Felipe Gonzalez. Zum 30.Geburtstag der bewaffneten Organisation haben sich in diesem Sommer 200 Dorfpfarrer, ihrer Tradition folgend, öffentlich zu Wort gemeldet. Beiläufig fällt das Wort vom politischen Wandel, ansonsten hadern die Gottesmänner ETA-synchron mit den spanischen Zeitläuften.

Alle Welt redet derweil von Verhandlungen zwischen Madrid und ETA für einen Waffenstillstand. Dementis und Schuldzuweisungen fliegen hin und her. Realität sind in diesem Sommer Kommandoaktionen, wie bisher. In Madrid werden zwei hohe Militärs auf offener Straße mit Maschinenpistolen ermordet. Ihre zerschossenen Schädel werden, ähnlich Italiens Mafiaopfern, zum Schauder des Publikums tagelang in Originalfarben durch Spaniens Medien gezerrt.

In San Sebastian im Baskenland nimmt ein junger Lehrer für seinen Nachbarn, einen pensionierten Polizisten, vom Briefträger ein Paket entgegen. Die Sendung explodiert und reißt ihm beide Hände ab. Als Irrtum verbucht ETA dies öffentlich und erschießt Tage später statt eines Industriellen dessen Chauffeur.

Das alte Seebad San Sebastian mit seiner einzigartigen Bucht, die einer Muschel gleicht, beschäftigt in diesem Sommer eher ein ökologisches Problem. Eine rote Algenflut, wie überall an Europas Stränden, droht in die Bucht einzudringen, wo bei Ebbe Tausende den Hausstrand der Stadt bevölkern.

Schnelle Abhilfe muß her. Eilig werden zwischen den beiden Hausbergen und der Insel Santa Clara, die die Bucht vor den Stürmen der Biskaya schützen, Netze durchs Meer gespannt.

Einer der beiden Hausberge wird von einer riesigen Herz -Jesu-Statue überragt. Zu Füßen des steinernen Gottes deponiert ein ETA-Kommando eine Autobombe mit der gewaltigen Sprengkraft von 100 Kilogramm.

Das Kommando hatte den Besitzer des Wagens mit der Pistole bedroht und ihn an einen Baum am Rand von San Sebastian gefesselt. Als es regnete, hinterließ sein Bewacher dem Beraubten einen Regenschirm.

Die Filmfestspiele im klassizistischen Victoria-Eugenia -Theater von San Sebastian sind bislang ungeschoren geblieben. Baskische Beiträge sind gegenüber der internationalen Konkurrenz wegen ihrer patriotisch einfältigen Schwarzweißmalerei bei der Preisverleihung in der Regel leer ausgegangen.

Es ist lange her, daß die ETA-Abteilung mit der Bezeichnung „Kulturfront“ existierte. In ihrer Frühzeit nahm sie sich der ideologischen Abweichungen vom rechten vaterländischen Weg mit Hingabe an. Damals war es, daß die Kulturfront über das Ansinnen eines Restaurantbesitzers in Bilbao Gericht saß, der einen Literaturpreis für spanischsprachige Romane stiften wollte.

In einem spanisch geschriebenen Brief mit dem Absender „ETA -Kulturfront“ wurde der hochherzige Kneipier zur Raison gebracht. Er trage, hieß es, mit seinem Vorhaben zur „Entnationalisierung unseres Volkes“ bei.

„Während unsere Genossen in den baskischen Bergen fallen oder in den spanischen Gefängnissen schmachten, bieten Sie Geschenke an für die Kultivierung der Sprache Francos, seiner Regierung und der Guardia Civil! Bei Wiederholung dieses provokativen Aktes haben Sie die Folgen zu tragen, die unsere Organisation dafür als Strafe vorsieht.“

Die Radikalnationalen haben sich seit einigen Jahren die Arbeit geteilt. ETA ist ausschließlich für die politische Gewalt zuständig, beherrscht ihr Metier vor allem auf den Instrumenten Gitarre und Flöte, in der Sprache des Terrors Maschinengewehr und Pistole, routiniert.

Für die Überwachung der korrekten Kulturlinie sorgt ihr legaler politischer Arm namens Herri Batasuna/HB (Volkseinheit), der sich die Funktion einer Zensurbehörde anmaßt. Mit 20 Prozent der baskischen Wählerstimmen ist dieser Arm nicht gerade schwach. Lang ist er, wenn es sein muß, auch.

Als der baskische Barde Imanol, einer der wenigen politischen Sänger, die auch hinter den Bergen bekannt sind, vor drei Jahren an der Totenfeier für die ermordete Aussteigerin teilnahm, erhielt er für sämtliche Veranstaltungen der radikalen Patrioten um ETA und HB ein Auftrittsverbot. Verscherzt hatte er sich die Gunst der Kulturwächter zuvor schon mit Liedern in spanischer Sprache.

Die Sprache des Feindes zu nutzen ist gelegentlich in den Augen der wahren Basken Sünde und kann zur politischen Exkommunikation führen. Den Sänger Imanol, der einmal ETA -Mitglied war und dafür mit Knast und Exil bezahlt hat, konnte seine vorbildliche Vergangenheit vor dem Ausstoß nicht bewahren.

In Euskadi verfügt etwa die Hälfte der Bevölkerung über baskische Sprachkenntnisse. Im Buchladen neben dem Festspieltheater in San Sebastian liegt eine einzige Neuerscheinung zum dreißigsten Geburtstag von ETA aus. Der Titel Euskadi en Guerra (Baskenland im Krieg) verweist auf die Autorenschaft.

Herausgeber ist die „Baskische Bewegung der nationalen Befreiung“, ein Zusammenschluß der Radikalnationalen von ETA bis zur „Frauenbefreiungsbewegung“, von HB bis zur „Koordination für Alphabetisierung und Re-Baskisierung“, mit einen Vorwort des Schriftstellers Alfonso Sastre.

Die Sammlung von Texten ist ein Dokument zum höheren Ruhme des ersehnten „Kleinstaats mit Baskenmütze“, wie Fernando Savater höhnisch anmerkt, einer der wenigen einheimischen Intellektuellen mit dem Mut zu scharfer Kritik.

Der Philosoph Savater schreibt an gegen die „dumpfe und kriminelle Arroganz“ von ETA, gegen die „hysterische und jesuitische Praxis ihrer Verbrechen“, gegen ihren „eucharistischen National-Leninismus“.

Das Kriegsbuch der ETA-Sympathisantenszene stützt Savaters einsame Kritik, die sich aus der im Baskenland verbreiteten Angst und Anpassung auch der gemäßigten Nationalisten heraushebt. Das Kriegsbuch schreibt Autoren wie Santa Clara, Arana und Krutwig fort. Es ist eine Rechtfertigungsschrift für die Verlängerung des Kampfes: „Wie viele Polizisten, Zivilgardisten und Verräter müssen noch fallen, bis die Grundrechte unseres Volkes vom spanischen Staat anerkannt werden?“

Savater: „Wenn diese Leute sich mit ihrem Autonomieprojekt durchsetzen, dann werden wir Live-Übertragungen von Exekutionen im Basken-TV haben, donnerstags und samstags, mit Untertiteln!“

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