Griechenland verbrennt seine Geschichte

Geheimdossiers über Oppositionelle feierlich vernichtet / „Nationale Aussöhnung“ mit zweifelhafter Symbolik  ■  Aus Athen Robert Stadler

„Um Gottes Willen, werft nicht unsere Geschichte ins Feuer!“ Der Aufschrei kam zu spät: In allen Teilen Griechenlands rauchte es gestern aus den Schloten. 30 Millionen Geheimdossiers, die während und nach dem griechischen Bürgerkrieg (1946-1949) angelegt worden waren, wurden den Flammen übergeben. Mit ihrer Vernichtung sollte auf das „endgültige“ Ende von Überwachung und Verfolgung griechischer Oppositioneller hingewiesen werden. Auf 15 Lastwagen waren die braunen Akten mit „individuellen Dossiers“ ins Stahlwerk von Eleusis gebracht worden. Dort wurden sie dann vor laufenden Kameras feierlich in den Ofen geschoben.

Die aus Anlaß des 40. Jahrestags des Bürgerkriegsendes geplante „Versöhnungsgeste“ der Regierung schuf aber keine Einigkeit, sondern neue Zwietracht. Vor dem Stahlwerk von Eleusis forderten mehrere hundert Demonstranten die Herausgabe der Dossiers und skandierten: „Ein Volk ohne Erinnerung ist ein Volk ohne Geschichte.“ Für viele bedeutet das in den Geheimdossiers enthaltene Material ein Dokument ihrer persönlichen Geschichte. Wertvolles Material über eine entscheidende Epoche Griechenlands wurde hier einer etwas fragwürdigen Symbolik geopfert. Ein ehemaliger Widerstandskämpfer Fortsetzung auf Seite 2

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aus dem Bürgerkrieg meinte dazu: „Die Geschichte und die Zukunft wird uns den Fehler, der mit der Vernichtung gemacht wurde, nie verzeihen. Niemand hat das Recht, die Geschichte zu verbrennen.“ Eine ähnliche Verbrennungsaktion hatte bereits in den frühen achtziger Jahren stattfinden sollen. Nach Protesten von Widerstandskämpfern und Historikern wurde sie jedoch wieder abgeblasen.

Noch am Abend vor der Feueraktion hatte ein Athener Gericht 13 Dossiers vor den Flammen gerettet, drei über frühere Minister, zehn über Widerstandskämpfer. Der Aktenberg war das Ergebnis jahrzehntelanger Spitzelarbeit des Geheimdienstes, unter dem sich nicht nur Daten über Einzelpersonen, sondern auch über die Aktivitäten von Organisationen, Vereinen, beschlagnahmte illegale Zeitschriften, mitgeschriebene Reden oppositioneller Politiker usw. verbargen.

Der Gedenktag gibt zweifellos gerade der momentanen Regierungs

koalition Anlaß zum Feiern. In ihr sitzen jene Kräfte zumindest kurzfristig - einträchtig nebeneinander, die sich im Bürgerkrieg als unversöhnliche Gegner gegenüberstanden und die vor nicht allzu langer Zeit noch ein historischer Abgrund trennte: die kommunistisch dominierte „Linkskoalition“ und die konservative Nea Dimokratia. Schon im Vorfeld der Aktenverbrennung wollten die beiden ungleichen Partner auch formell der jahrzehntelangen Spaltung der Nation ein Ende bereiten: Im zuständigen Parlamentsausschuß wurde ein Gesetzesentwurf über „die Aufhebung der Folgen des Bürgerkrieges“ eingebracht. In sechs Artikeln sieht er u.a. die Nichtigkeit von Gerichtsurteilen für Taten, die in Zusammenhang mit dem Bürgerkrieg stehen, vor; darüber hinaus die weitere Festigung von Pensionsansprüchen für ehemalige Widerstandskämpfer bzw. für unschuldige Opfer.

Das „endgültige“ Ende der Überwachung ist übrigens auch mit der Verbrennung der Unterlagen nicht garantiert: Viele der Daten, sagt man, seien bereits auf die Disketten staatlicher Computer gewandert