Die neuen Schwulen

■ Der 1961 in Palo Alto, Kalifornien, geborene amerikanische Schriftsteller, dessen neuestes Buch „Die verlorene Sprache der Kräne“ dieses Frühjahr bei Rowohlt erschienen ist, äußerte sich im New York Times Magazine erstmals explizit politisch.

David Leavitt

Aids wurde um 1981 zu einem Problem für mich. Ich war 19 Jahre alt und im zweiten Jahr in Yale. Ich stand auf dem Flughafen von Oakland vor einem Zeitungskiosk und wartete auf das Flugzeug, das mich aus den Weihnachtsferien wieder in die Universität bringen sollte. Die Titelgeschichte einer Zeitschrift lautete „Schwulenkrebs“ oder so ähnlich. Ein paar Sekunden lang bedrängte mich die Angst wie eine Fliege, dann verscheuchte ich sie mit einer Handbewegung und stieg ins Flugzeug. Die Überschrift habe ich aus meiner Erinnerung entfernt, aber der Augenblick vor dem Kiosk hat sich unauslöschlich eingeprägt. Noch Jahre später konnte ich mich an ihn erinnern wie die Generation meiner Eltern sich an den Moment erinnern kann als sie erfuhren, daß Kennedy ermordet wurde.

Zu Beginn der achtziger Jahre war die Yale University eines der aktivsten Zentren der Schwulenbewegung. Schwulsein war in. Jedes Frühjahr organisierten Schwulen- und Lesbengruppen eine Woche lang die „Tage des schwulen und lesbischen Bewußtseins“ (Gay and lesbian awareness days, abgekürzt Glad (glücklich)). Schwule und Heterosexuelle trugen den Rosa Winkel als Zeichen der Solidarität mit den vom III. Reich verfolgten und massakrierten Homosexuellen.

Es war ein Fest. Larry Kramer, ein Drehbuchautor und Schriftsteller, der in den 50er Jahren seinen Abschluß in Yale gemacht hatte, berichtet, er sei zu Tränen gerührt gewesen, als er sich bei der Glad-Woche 1982 in einer Diskussion zum Begriff der „Schwulenliteratur“ mitten in einem großen Auditorium wiederfand, das engagiert diskutierte und in dem fast jeder - schwul oder nicht - den Rosa Winkel trug.

Der Dichter und Übersetzer Richard Howard, der damals ebenfalls dabei war, prophezeite: die Krankheit mit dem neuen Namen Aids werde die Schwulenliteratur konsequent und unaufhaltsam ändern. Wir im Publikum sahen ihn verwundert an, ohne zu verstehen, was er meinte. Aids, so dachte ich damals, das ist etwas, das nur Leuten passiert wie sie in den Romanen von Larry Kramer vorkommen: Tunten, alte Männer, die den Sommer auf Fire Island verbringen und Sexualverkehr mit Unbekannten haben.

Ich applaudierte also höflich und strich die Bemerkungen von Richard Howard aus meiner Erinnerung.

Wenn Leute mich fragten, warum ich nicht über Aids schriebe, wurde ich wütend. Da ich einen Band mit Erzählungen und einen Roman geschrieben hatte, die das Leben von Schwulen und ihren Krankheiten thematisierten, dachte man wohl, mir müßte das Thema liegen. „Pah“, antwortete ich, „muß ich denn über alles schreiben?“ Die Wahrheit war, ich hatte eine derartige Angst vor Aids, daß ich nichts darüber wissen wollte. Kam die Rede auf Aids, wechselte ich schnell das Thema; wenn ich in einer Zeitung eine Schreckensmeldung entdeckte, überflog ich den Artikel und wenn ich bemerkte, daß keines der Symptome auf mich zutraf, ging ich schnell zum nächsten Artikel über. Erst später als Leute aus meiner Umgebung erkrankten und als ich Autoren kennenlernte, die, durch eine Diagnose in Panik geraten, es sich nicht mehr leisten konnten, auf 'Inspirationen‘ zu warten, wurde mir klar, daß ich nur meine Angst kaschiert hatte.

Ich werde mich immer an das New York Mitte der achtziger Jahre erinnern: in den Straßen war die Stimmung von Trauer und Angst fast mit den Händen zu greifen. Die Büros der 'Gay men's health crisis‘ waren finstere Orte. In den mit grauen Tapeten bekleideten Gängen herrschte ein Schweigen, das einen eisigen Kontrapunkt zu bilden schien zum Terror, der die Stadt verwüstete: Männer, die besorgt ihre Hälse abtasteten auf der Suche nach geschwollenen Lymphdrüsen oder in den Spiegel starrten, um mysteriöse Furunkel zu untersuchen. Jeder kannte die Zeichen, aber niemand wußte genau, was sie bedeuteten.

Dann, am Ende dieses langen Tunnels der Angst, las ich im New Yorker den Kurzroman von Susan Sontag „Die Welt, in der wir heute leben“ und fühlte mich erleichtert. Bis dahin hatte ich, wenn ich über Aids las, immer den Eindruck, es handele sich um eine weiter weg stehende Mauer, gegen die ich plötzlich geschleudert werden könnte. Susan Sontag hatte dagegen eine Erzählung geschrieben, die über den Schrecken hinausreichte und darum befreiend wirkte, wenn schon nicht, was Aids selbst anging, so doch in bezug auf die Haltung der Leute gegenüber der Krankheit.

Das Buch war so wichtig für mich, weil es die Möglichkeit einer Katharsis bot: und damals war die Katharsis exakt das, was wir alle dringend benötigten. Vor allem in der erste Zeit der Epidemie führte die Diagnose Aids zu einem fürchterlichen Schuldkomplex; das Wissen, daß man den Virus nicht bekommen hätte, wenn man auf eine bestimmte Art von Geschlechtsverkehr verzichtet hätte, war für viele fast ebenso unerträglich wie die plötzliche sichere Gewißheit des Todes. Der Kranke und seine „besorgten Freunde“ beredeten stundenlang ihre sexuellen Geschichten, um herauszubekommen, wann und wie man sich angesteckt hatte. Wie Susan Sontag später in ihrem Buch „Aids und seine Metaphern“ beschrieb, bestand eine enge Verbindung zwischen der Krankheit und der Mythologie vom Sex als etwas Schmutzigem, Verabscheuungswürdigen, Schuldhaften. Aids, das war so etwas wie das „Roman Fever“ der berühmten Geschichte von Edith Warton, eine Krankheit, die die jungen Frauen ergriff, sobald sie den Fehler begingen, mit italienischen Männern „zum Kollosseum zu gehen.“

„Im Aids-Zeitalter“, schrieb Susan Sontag, „wurde aus der großen Kette des Seins die des Todes„; und indem sie den Leser daran erinnerte, daß die Kette der Sexualität, die den Virus überträgt, auch eine des Lebens ist, gelang es Susan Sontag, Aids wenigstens etwas von seinem moralischen Gewicht zu nehmen.

Durch die Art wie wir heute leben fühle ich mich in meiner Angst weniger allein. Für die „Indifferenten“ ist es leicht, die Positiven mit einem scharlachroten Buchstaben zu zeichnen. Die unüberlegte Terminologie, die diejenigen quält, die sich mit Aids befassen, ist leicht zu verwenden: zum Beispiel „Aidsopfer“ statt „Aidskranker“.

Ich dagegen trat mißtrauisch in jene Grauzone ein, in der Kunst und Politik nicht nicht miteinander reagieren können. Ich sah wie kurz der Weg war von der flammenden Rhetorik der fundamentalistischen Christen, die darauf bestanden, daß Aids die Strafe Gottes für die Sünde der Homosexualität sei, zu der banalen aber ebenso irritierenden Bemerkung von George Bush, der sein Mitleid für die Aidskranken, „vor allem die Kinder“ zum Ausdruck brachte. (Natürlich: wie hätte er Mitleid für Drogenabhängige und Homosexuelle zeigen können?).

Ich sah, wie Aids für die extreme Rechte zu einem willkommenen Instrument in ihrem Kampf gegen das „dritte Geschlecht“ wurde und zu einem Mittel, die Jugendlichen zu verängstigen und von jeder sexueller Betätigung abzubringen. Jugendlichen 'etwas‘ über 'safer sex‘ beizubringen, bedeutet zuzugeben, daß Jugendliche ein Geschlecht haben und Drogenabhängigen sterile Nadeln zu geben, bedeutet zuzugeben, daß es Drogenabhängige gibt.

So ist die religiöse Rechte vorgegangen, sie ist den Sexualerziehern in die Arme gefallen, die Leben retten wollen, um eine mythische Abstinenz zu predigen, die doch niemand praktiziert. Inzwischen sterben Männer und Frauen. Die Jugendlichen in den Städten, die ja über sex nicht aufgeklärt sind, geschweige denn über Aids, tragen das größte Risiko (eine neue Untersuchung von etwa 17 000 Studenten ergab, daß zwei von tausend positiv sind; eine erhellende Statistik).

Man kann durchaus sagen: die einzigen, die sich halbwegs ein wenig Wissen über sichere Methoden informieren konnten, sind die Schwulen in New York und San Francisco und das vor allem dank der Arbeit von Organisationen wie „Gay Men's Health Crisis“.

Unter den Schwulen hat sich die Situation wirklich geändert. Auch wenn ich Männer kenne, die nicht an so etwas wie 'safer sex‘ glauben und lieber abstinent leben als auch nur das geringste Risiko einer Infektion einzugehen, so folgen die meisten doch nach Aids wie vor Aids ihrer Natur: einige haben nur einen Sexualpartner, einige haben mehrere; andere suchen nach anonymem Sexualverkehr. Geändert hat sich, daß safer sex zur Norm geworden ist. Die jungen Schwulen heute sagen einfach nur 'sex‘ wenn sie 'safer sex‘ meinen. 'Sexuell positiv‘ ist der Begriff, den ich heute höre, wenn es darum geht, die neue enthusiastische Haltung, die circa acht Jahre nach Beginn der Seuche, gefunden wurde, zu bezeichnen: ein wunderbar ironischer Ausdruck, da wir in einer Welt leben, in der der Begriff 'positiv‘ eine neue, eindeutig negative Bedeutung bekommen hat.

In den ersten Tagen der Aids-Epidemie fürchteten viele, daß die Schwulen-Bewegung durch die Seuche dezimiert werden würde; die Propheten des Untergangs sahen in den frühen achtziger Jahren ganze Generationen Männer und Frauen wieder gefangen in der Toilette, deren Tür die Schwulenbwegung so lange aufzustoßen versucht hatte. Aids, so hieß es, würde die Jungen von den Alten trennen; und die von der Krankheit am stärksten geschlagene Generation, die zwanzig Jahre zuvor die berühmten Tumulte in der Stonewall Schwulenbar entfacht hatte und das, was danach folgte, würde ausgelöscht werden und neue Generationen müßten wieder von vorn anfangen.

Glücklicherweise sind diese apokalyptischen Prophezeiungen nicht eingetroffen. Im Gegenteil, aus dem Konsumismus der frühen achtziger Jahre ist eine neue Schwulengeneration hervorgegangen, die sich gerade um die Aids-Frage organisiert hat, und die zu einer politischen Kraft geworden ist, mit der man rechnen muß.

Vor einigen Jahren hat Larry Kramer mit einer Rede im Schwulen Community Center in New York die Dinge in Bewegung gesetzt. Damals forderte er zur Gründung einer Gruppe auf, die gegen die Food and Drug Administration vorgehen sollte. Die Behörde sollte freizügiger mit den Versuchspharmaka gegen Aids umgehen.

Act Up ist der Name der Organisation, die aus dieser Rede hervorging. Anders als Gay Men's Health Crisis, die in einem Moment der Trauer entstand und die Ausdruck des Schmerzes der Schwulen Community war, bildet Act Up, um aus ihren Statuten zu zitieren, eine Koalition von „unterschiedlichen Menschen, die von der Unzufriedenheit zur gemeinsamen Aktion getrieben werden“. Einer der Slogans der Organisation lautet: „Brüll und sei stark, tapfer und homosexuell.“

Die Männer und Frauen von Act Up sind entschlossen, gegen die Vorstellung vorzugehen, Aids-Kranke seien schwach und zerstört und verdienten nichts als Mitleid. Sie pflegen das Image von Leuten, die zu allem entschlossen sind, wenn es um die Verteidigung ihrer Rechte geht.

Act Up möchte Aids nicht als eine medizinische sondern als eine politische Frage behandelt wissen. Anders als die Leute von Gay Men's Health Crisis, deren Gründer schnell viele Freunde verloren, sind die von Act Up Frauen und Männer, für die Aids zum Leben gehört. Einige von ihnen waren 1982 erst 14 Jahre alt. Für sie ist Aids kein Meilenstein, der die Geschichte in ein Vorher und Nachher teilt: für sie gab es kein „Vorher“.

Act Up trifft sich jeden Montag abend in der Mensa einer ehemaligen öffentlichen Schule New Yorks, in der 13.östlichen Straße. Als ich das erste Mal dorthin kam, zehn Minuten vor offiziellem Beginn des Treffens, war der Raum schon voll. 300 Personen, die meisten waren junge Leute, fast alle, aber nicht alle, schwul.

Damals erhob sich ein Mann namens Raymond und erklärte, er habe ein Lungensarkom, die seltene Form eines inneren Hauttumors, der bei Aids-Kranken häufig vorkommt. Die einzige Behandlung, die es gab, war die durch ein Präparat der Schering-Plough, einer Firma in New Jersey, das Bakterienkolonien stimuliert. Leider wurde Raymond nicht für geeignet betrachtet, um für die Versuche dieser Gesellschaft mit dem Medikament eingesetzt zu werden. Wiederholte Interventionen, sei es von Raymond oder seinen Ärzten, um wenigstens „aus Mitleid“ das Medikament zu bekommen, wurden von Schering ohne Begründung zurückgewiesen.

Alle applaudierten, als Raymond sich setzte und wer interessiert war an der Organisierung einer Kampagne, um ihm zu helfen, wurde in den Duschraum gebeten. Eine halbe Stunde später präsentierte sich ein Solidaritätskomitee, das eine Telefonaktion vorschlug.

Am festgelegten Tag riefen die Mitglieder von Act Up ununterbrochen bei Schering an. Am Montag darauf konnte die gute Nachricht bekannt gegeben werden, daß die Telefonaktion die Zentrale bei Schering praktisch lahmgelegt hatte. Die Gesellschaft hatte nachgegeben und Raymond hatte sein Medikament bekommen (als er zwei Monate später starb, wußte er wenigstens, daß alles getan worden war, um ihn zu retten).

Früher bedeutete das Engagement in der Schwulenbewegung die Zugehörigkeit zu einer Art „Stamm“, der ganz aus Männern, vor allem Weißen, bestand, deren Politik auf der Grundlage eines hemmungslosen Konsumismus basierte und der Vorstellung von Bürgerrechten wenig Raum gab. 1989 dagegen hat der „Stamm“ der „schwulen Nation“ Platz gemacht. Die besteht aus Männern und Frauen verschiedenster Rassen und der Konsumismus spielt kaum eine Rolle. Der geschlossene Zirkel ist zu einer offenen Runde geworden. Wir haben die Atmosphäre der Niedergeschlagenheit der frühen achtziger Jahre hinter uns gelassen und mit der Aufbauarbeit begonnen.

Die meisten Akte des zivilen Ungehorsams von Act Up werden von kleinen „homogenen Gruppen“, die sich innerhalb der größeren Organisation herausbilden, durchgeführt. Meine Gruppe, die Candelabras, besteht aus drei Romanschreibern, einer Krankenschwester, einem Kindergärtner, einem Barkeeper aus East-Village und einem Kunsthistoriker. Am deutlichsten ist mir eine Demonstration in Columbia in South Carolina in Erinnerung geblieben. Ich war mit anderen Mitgliedern von Act Up von New York dorthin gefahren, um gegen die Praxis dieses Staates in Sachen Aids zu demonstrieren. Unter anderem hat das Parlament von South Carolina ein Gesetz angenommen, das die HIV-Positiven in Quarantäne steckt und mit Gefängnis bis zu zehn Jahren jeden bestraft, der eine andere Person „bewußt dem Aids-Virus aussetzt“.

Vor der City Hall, Parlaments- und Regierungssitz in einem, marschierten etwa hundert Mitglieder von Act Up, riefen Slogans und während aus der Höhe des riesigen Wolkenkratzers Beamte und Mitglieder des Parlaments zuschauten, veranstalteten sie ein Kiss In: Die Demonstranten küßten sich also, um gegen die Legende zu demonstrieren, Aids könnte auch durch oberflächlichen Kontakt übertragen werden. Dann setzten sich etwa 40 Demonstranten auf die Straße, blockierten den Verkehr, bevor Polizeibeamte sie wegzogen, sie fesselten und in eine Kaserne in einem der Außenbezirke fuhren.

Als dann alle wieder auf Kaution freigelassen worden waren und wir in dem Zimmer eines Motels standen, um zu sehen, was das Fernsehen aus unserer Veranstaltung gemacht hatte, hörten wir ein Interview mit einem der wenigen Leute aus Carolina, die an der Demonstration beteiligt gewesen waren. Er trug eine Sauerstoffmaske und erklärte dem Reporter, er habe sie aus dem Zimmer des ersten Aids-Toten mitgebracht, den er kenne. Er habe auf die Maske geschrieben „Schweigen Tod“, um deutlich zu machen, daß er nicht nur für sich sondern auch im Namen seiner toten Freunde demonstriere.

Am Ende des Interviews fragte der Reporter ihn, ob er sagen wolle, wie er heiße. Er zögerte, erklärte, man müsse Schritt für Schritt vorgehen; machte ein Pause, dann sagte er seinen Namen und die Stadt, in der er lebt.

Die Nachrichtensendung endete mit diesen Worten. Wir alle hatten erwartet, daß er seinen Namen nicht bekanntgeben und stattdessen das Interview mit Entschuldigungen und Begründungen für sein Schweigen beenden würde, er aber hatte sich öffentlich erklärt, hatte sich abstempeln lassen. Zuviele waren gestorben, zuviele waren zu brutal gestorben, als daß er hätte länger schweigen können.

Der Fernseher wurde abgestellt und wir saßen da, still und deprimiert. Dann ein Murmeln: „Walter hat seine Kontaktlinsen verloren.“ Er hatte, wie die meisten von uns, geweint.

Und daran werde ich mich immer erinnern: wie wir alle auf dem Boden saßen auf der Suche nach dieser Kontaktlinse, die wir niemals fanden.

Übersetzung: Wilhelm Schmidt