: Einkaufen und Gedenken
Demonstration, Aufruf zur Desertion und Shopping am Antikriegstag ■ Foto: Wolfram Steinber
Mitten auf dem Ansgari-Kirchhof steht ein junger Mann in rot. Auf einem Transparent bezichtigt er sich, Zivildienstleistender zu sein - und damit im Falle von Kriegsvorbereitungen ebenfalls in das mörderische Handwerk des Militärs einbezogen zu werden. „Ich müßte dann Blindgänger entschärfen oder im Lazarett dienen“, erklärt sein Kollege von der Selbstorganisation der Zivildienstleistenden am Info-Tisch nebenan. Aber beide wissen auch ein Mittel gegen die Einplanung in den Krieg: „Wir werden desertieren!“ Unter der warmen Nachmittagssonne spazieren über 1.000 BremerInnen leise plaudernd vom Buntentor in Richtung Domshof. Voran flattert ihnen ein Transparent, auf dem zum Verbot von DVU, FAP, NPD, Republikanern und anderen neofaschistischen Parteien und Organisationen aufgerufen wird. Es ist Freitag, der 1. September 1989, genau 50 Jahre nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen.
Auch in der Zentralbibliothek am Schüsselkorb werben Plakate unter Tucholskys Motto „Soldaten sind Mörder“ für eine radikal-pazifistische Veranstaltung mit Gerhard Zwerenz. Nebenan strömt Bremens Mehrheit im vorwochenendlichen Einkaufsgetümmel durch die Kaufhäuser. Vor dem frisch von der Berliner Funkausstellung herangeschafften hypermodern flachen Fernseher versammelt sich mehr Menge als unten am Stand der desertionswilligen Zivildienstleistenden.
„Der Krieg ist die Verneinung der menschlichen Vernunft“, heißt es auf einem Transparent im Demonstrationszug durch die Neustadt. „Unser Geld soll nicht länger dem Tod dienen, sondern für das Leben ausgegeben werden“, haben die „Christinnen und Kommunistinnen für den Frieden“ handschriftlich auf ihrem kleinen gelben Flugblatt vermerkt, auf dem 15 nachgedruckte Todesanzeigen mit eisernem und Hakenkreuz vom Soldatentod „im Kampf im Osten in festem Gottvertrauen und Glauben an den Sieg Deutschlands“ künden.
Flugblätter kommen ansonsten vor allem von kurdischen Organisationen, die auf den heutigen Krieg des „Nato -Partners“ Türkei gegen ihr Volk aufmerksam machen wollen. Mit „Hoch-die-internationale-Solidarität“ hat sich am Schluß des Zuges ein zwanzigköpfiges Bündnis aus acht Organisationen der Avantgarde des Klassenkampfes vom Bund Westdeutscher Kommunisten über die MLPD bis zur Vereinigten Sozialistischen Partei (VSP) zusammengefunden.
Als der Demonstrationszug an der Zionskirche vorbeizieht, läßt Pastor Sanders die Glocken läuten. Neben ihm wartet auch eine 30köpfige Jugenddelegation aus Rostock darauf, sich einzureihen. Die FDJ-Mitglieder sind leicht an den Plastiktüten zu erkennen, die sie offenbar zuvor bei einem gemeinsamen Rundgang durch ein großes technisches Kaufhaus mit Schallplatten gefüllt haben.
Ase
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen