: Fächerübergreifende Bauchschmerzen
■ Auch nach den Uni-Streiks im letzten Winter brodelt es bei den Nachwuchsmedizinern weiter / Der „Halbgott in Weiß“ muß endlich vom Sockel gestoßen werden / Mehr Diskussionen statt Frontalunterricht wird gefordert / Arzt ist ein Gesundheits- und kein Krankheitsberuf
„Der erste Patient ist immer eine Leiche“, erklärt Mathias, Medizinstudent im 9. Semester. „Erst in der Klinik merkt man, daß man es als Arzt eigentlich mit Menschen zu tun hat“, ergänzt Kommilitone Oliver, der ebenfalls im 9. Semester an der FU Medizin studiert. Doch die beiden stört an der gängigen Medizinerausbildung noch etliches mehr. Die Kritik am Medizinstudium ist zwar nicht neu, aber es sieht so aus, als sei nicht zuletzt durch den Streik im Wintersemester 1988/89 gerade in Berlin einiges in Gang gekommen. Inzwischen hat sich an der Freien Universität eine Arbeitsgruppe gebildet, die unter dem Namen „Berliner Modell“ Überlegungen für einen alternativen Modellstudiengang anBauchschmerz.
Ein anderer wichtiger Kritikpunkt: das ärztliche Selbstverständnis. „Was fehlt, ist eine Definition“, sagt Andreas, „die klärt, wozu wir überhaupt ausgebildet werden.“ Daß die „Vermittlung von Haltung“ fehlt, kritisiert auch Paul. Es fände eben während der Ausbildung keine Reflexion über die eigenen Rollen statt, nur unterschwellig wird natürlich, das ist den Studenten klar, das Bild vom Halbgott in Weiß weitergegeben. „Da geht es dann um die Rangfolge der einzelnen Berufe, und natürlich steht der Arzt an oberster Stelle“, erinnert sich ein Student, „ohne daß erwähnt wird, daß sich auch dieses Erlebnis nur auf eine Umfrage bezieht.“
In der Arbeitsgruppe soll nun weiter an dem Konzept eines möglichen alternativen Modellstudiengangs für Berlin gearbeitet werden. „Wir sind da natürlich nicht die ersten, die sich über dieses Thema Gedanken machen“, heißt es. Für den Herbst ist eine Tagung geplant, zu der alle die eingeladen werden sollen, die sich mit dem Thema befassen und an Alternativmodellen arbeiten. Die Schirmherrschaft hat der Präsident der Berliner Ärztekammer, Ellis Huber, übernommen.
Die härteste Nuß, die nicht nur die Berliner Studenten, sondern alle Reformwilligen im Bereich der Medizinerausbildung dabei knacken müssen, ist die bundesweit gültige Approbationsordnung, die solche Experimente nicht vorsieht, und der verbindliche Gegenstandskatalog für alle medizinischen Prüfungen. Auch die meisten der Professoren hätten, so beklagen die Studenten, nur wenig Interesse an der Lehre. „Forschung bringt Renomee, Lehre bringt gar nichts“, faßt ein Student zusammen, was seiner Meinung nach für viele der Professoren gilt.
Durch den Streik haben sich jedoch auch andere Kontakte zu Dozenten ergeben. Am Universitätsklinikum Charlottenburg hat sich ein Gesprächskreis um einige Professoren gebildet. „Das war das erste Mal, daß ich mit einem Professor geredet habe“, erklärt Kai. „Wir wollen auch mal Veranstaltungen, in denen man diskutiert“, fordert Paul. „Das Reden und Denken verlernt man in diesem Studium völlig.“ In der Klinik hatten sie zum Teil mit ihren Forderungen offene Türen eingerannt, erklären die Studenten. Dort würde ihre Kritik an der heute gängigen Arztausbildung geteilt: „Das sollte ein Gesundheitsberuf sein“, faßt ein Student zusammen, „und wir hören nur über Krankheiten.“
-guth
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