: Keine Hexenjagd auf die Partei
B. Geremek, Fraktionsvorsitzender von Solidarnosc, über Regierungsbildung ■ I N T E R V I E W
Frage: Herr Professor Geremek, der Premierminister hat Mühe, in den Reihen von Solidarnosc selbst Kandidaten zu finden, die bereit sind, Regierungsverantwortung zu übernehmen. Es riecht nach Konflikt in der Gewerkschaft?
Bronislaw Geremek: Bei den Schwierigkeiten der Regierungsbildung handelt es sich nicht so sehr um eine Frage von Konflikten, als vielmehr der Auswahl, die sich im wesentlichen an Kriterien der Kompetenz und der Verantwortlichkeit orientiert. Die Kommunisten beispielsweise wollen bestimmte Machtstrukturen weiterhin kontrollieren, also müssen sie auch eine konkrete Verantwortung in der Regierungspolitik übernehmen. Deshalb meinen wir, daß das Wirtschaftsministerium einem Vertreter der PVAP anvertraut werden soll. Überdies gibt es das schwierige Problem der Vertretung der Landwirtschaft. Die Land-Solidarnosc und die Bauernpartei sind beide am Landwirtschaftsministerium interessiert. Solidarnosc verlangt die Einhaltung des Abkommens, das sie im vergangenen Monat mit den Regierungspartnern abgeschlossen hat, und ist beunruhigt über die Ambitionen einer Partei, deren organisatorische Strukturen seit Jahrzehnten der Nomenklatura gehören und die aus der aktuellen Entwicklung großen Gewinn schlagen will.
Haben die Experten von Solidarnosc über das wirtschaftliche Sanierungsprogramm, das Premierminister Mazowiecki dem Parlament vortragen soll, im großen und ganzen eine Einigkeit erzielt?
Der Bericht von Mazowiecki wird zwei Teile haben, einer ist dem Aktionsprogramm, das sich auf die nächsten drei Monate bezieht, gewidmet, der andere den Strukturreformen. Es ist unabdingbar, den Nahrungsmittelmarkt sofort zu stabilisieren, vor allem die Versorgung mit Fleisch und Butter, und die Inflation zu bremsen. Also werden die Grundlagen für eine rasche Rückkehr zur Marktwirtschaft geschaffen, die mit einer Privatisierung der Staatsindustrie einhergehen soll.
Glauben Sie, daß es Solidarnosc gelingen wird, dem Streikmoratorium Geltung zu verschaffen?
Niemand kann das voraussehen. Befürchten die Parteikader wirklich, daß nun die Jagd auf die Apparatschiks entfesselt wird?
Unser Ziel ist es, uns der Loyalität der Nomenklatura zu versichern. Wir haben nie versucht, die Dinge zu überstürzen oder hysterische Reaktionen zu erzeugen, indem wir die Leute mit dem Rücken zur Wand stellen. Wir wollen im Gegenteil jede Hexenjagd vermeiden. Die Personen werden nicht nach ihrer Zugehörigkeit zur Partei beurteilt, sondern nach Kriterien der Effizienz, nach ihrer Arbeit und beruflichen Ausbildung.
An welchem Punkt sind die Verhandlungen über den Wechsel an der Spitze des Runfunk- und Fernsehkomitees angelangt?
Es ist absolut notwendig, das Monopol über die Massenmedien zu zerschlagen. Indem wir die Leitung des Fernsehens und des Rundfunks übernehmen, garantieren wir einen wirklichen Pluralismus. Das wird für die öffentliche Meinung das schnellste und deutlichste Signal für den neuen Kurs.
Aus 'Corriere della Sera‘, 6.9.89
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