piwik no script img

WO ÜBERWINTERN DIE KREBSE?

■ Perestroika-Plakate in der Galerie am Holtzendorffplatz

„Die Beschlüsse der KPdSU umsetzen! Auf die Arbeiterklasse ist Verlaß!“, ruft der strahlende Jungarbeiter auf dem Plakat von V.Sackow dem eintretenden Ausstellungsbesucher entgegen. Man sollte nicht vermuten, daß dieses Plakat im herkömmlichen Rotton und in der stereotypen, monumental -theatralischen Geste der bekannten Propagandalinie sowjetischer Selbstbeweihräucherung folgend, die Beschlüsse des Parteitages meint, auf dem zur allgemeinen Perestroika aufgerufen wurde.

Was das heißt, die Forderungen nach sachlicher Bestandsaufnahme der sowjetischen Wirklichkeit in die Tat umzusetzen, können wir an sehr unterschiedlichen Plakaten dieser Ausstellung sehen: auf einem Bild von J. Leonov verkündet eine zur Abstimmung erhobene, aber durchgeschnittene Hand auf tiefblauem Hintergrund wie vor wolkenlosem Himmel: „Ich habe meine eigene Meinung„; der ängstlich blickende, in trübes Wasser eintauchende Fisch, in den sie sich anstatt des Ärmels unterhalb der roten Schnittlinie verlängert, sagt kleinlaut: „Aber ich stimme mit ihr nicht überein.“

Ganz offensichtlich ist an die Stelle früherer Schönfärberei die drastische Darstellung gesellschaftlicher Widersprüche getreten: zwei Arbeitsbienen schleppen einen Balken, während sich eine dritte obendrauf genüßlich räkelt; das private Eigentum wird mit einem Vorhängeschloß gesichert, das gesellschaftliche Eigentum ist nur durch einen Holzbalken unzugänglich gemacht; ein Haus aus Geldscheinen, umgeben von einem Garten, in dem der Rubel wächst, gesteht privaten Reichtum ein, erworben durch Diebstahl, Korruption und Protektionismus. „Bürokratie“, so sagt ein Plakat von I. Cernyj, „heißt nicht gebaute Häuser, nicht in Betrieb genommene Maschinen, nicht in die Praxis umgesetzte Erfindungen, nicht realisierte Pläne“: einem kopflosen Bürokraten sind die Ärmelschoner vor lauter Nichtstun zu einer Art Zwangsjacke zusammengewachsen, haben ihn handlungsunfähig gemacht. Verlängerte Arme von Schreibtischtätern, Hände, die endlos in andere Hände münden, symbolisieren immer wieder die Übermacht von Verordnungen und Instruktionen; im Kreis umlaufende, mit rotem Teppich ausgelegte Treppen, auf deren Absatz jeweils ein Schreibtisch steht, entlarven durch einen optischen Trick die Bürokratie als ein hürdenreiches, aber auswegloses Kreissystem. Ihre lähmende Wirkung auf alle Bereiche der Gesellschaft - u.a. auf die zu hohe Ausschußproduktion und der verschwenderische Umgang mit Ressourcen - ist Thema zahlreicher weiterer Plakate, darunter dem von V. Sostja: für die Herstellung eines Streichholzes, das wie ein geschnitztes Standbild aus einem Baumstumpf herauswächst, wurde ein ganzer Baum gefällt.

Zeichnungen von gerupften oder skelettartigen Tieren, wie das mit dem Titel „Wo überwintern die Krebse?“, weisen auf das zunehmende Tiersterben hin und damit auch auf die ernsten ökologischen Probleme.

Der verbreitete Alkoholismus war schon immer ein Thema sowjetischer Plakatgestaltung; neu ist das Eingeständnis, daß es in der Sowjetunion Sozialwaisen, Drogenabhängige, Aids-Kranke und Invaliden gibt.

„Der Sieg des Oktobers ist das wichtigste Ereignis des 20. Jahrhunderts“, dieser von G. Filippow angefertigte Reprint eines Plakats von 1917 eröffnet die Plakatfolge zur sowjetischen Geschichte. Sie wird nicht mehr dargestellt als eine Kette von Triumphen, sondern thematisiert bisher tabuisierte Fehler und Verbrechen der Führung. „Fürchtet die Gleichgültigen“, ein Plakat von A. Utkin, hängt neben dem Plakat der auflagenstarken Zeitschrift 'Ogonjok‘, das zu einer Ausstellung mit Entwürfen zu einem Denkmal für die Opfer des Stalinismus einlädt. Auf einem Plakat von A. Lozenko fährt der Zug der Geschichte durch eine bedrückende, düstere Ebene in eine ungewisse, ebenso düstere Ferne: die Jahreszahlen 1935, 1936, 1937, 1938, 1939, 1940 und die grauen, in Viehwaggons zusammengedrängten Menschen erinnern an Deportation und Umsiedlung.

Die Arbeit von A. Vaganovs zur Kollektivierung der Landwirtschaft 1929 diente als Vorlage für das Ausstellungsplakat: das farbige Original zeigt vor einem juteartigen Hintergrund eine blutige Sichel, deren unbrauchbare Schnittseite das Profil Stalins nachzeichnet.

Diese vielfältige Reihe von Plakaten - in den verschiedensten Techniken und Stilen hergestellt - wirkt wie ein kleines Schaufenster in das Leben der heutigen Sowjetunion hinein. Wir verdanken diesen Einblick der privaten Sammelinitiative der beiden Ausstellungsgestalter Gabriele Leupold und Theo Böll. Die Ausstellung wird noch bis zum 30. September in der Galerie am Holtzendorffplatz und danach voraussichtlich in Bochum zu sehen sein.

Michaela Ott

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen