: Regierung muß sich emanzipieren
■ Das neue polnische Kabinett ist vor allem von Solidarnosc geprägt
Klarer als der zähe Widerstand der Vereinigten Arbeiterpartei es erwarten ließ, ist das Kabinett Mazowiecki vom Bürgerkomitee Solidarnosc geprägt worden. Der Kontrollbereich der Realsozialisten schrumpft der Tendenz nach auf die Repressionsorgane und die Beziehungen zu den sozialistischen Ländern zusammen. Eine demagogische und pseudolinke Koalition zwischen den stalinistischen Chefbürokraten und den populistischen Gewerkschaftsführern der PVAP unter dem Banner „Verteidigung der Arbeiterrechte“ ist absehbar.
Die Regierung des Bürgerkomitees hat jetzt die Chance, den Demokratisierungsprozeß voranzutreiben. Die kommunale Selbstverwaltung, die Verselbstständigung und Pluralisierung der Medien können unter Leitung des Bürgerkomitees in Angriff genommen werden. Da die PVAP auch die Kontrolle über die Ernennung leitender Wirtschaftskader verliert, werden viele der 120.000 Nomenklaturisten in der Industrie die Loyalität zur bisherigen Machtelite aufkündigen. Damit wäre eine wesentliche Voraussetzung jeder Wirtschaftsreform erfüllt.
Wird es Jacek Kuron, dem Linken, gelingen, die polnischen Arbeiter zum Streikverzicht, zur Hinnahme weiterer Preissteigerungen und zum Einverständnis mit Betriebsschließungen zu bewegen? Viel wird davon abhängen, ob die Regierung Mazowiecki ihre beiden kurzfristigen Ziele
-Nahrungsmittelversorgung und Eindämmung der Inflation erreichen kann. Für das Zustandekommen der Koalition war es notwendig, das Agrarministerium der Bauernpartei zu überlassen. Aber Vertrauen bei den demoralisierten Bauern hätte nur ein Vertreter der Landsolidarität wecken können. Eine Zerreißprobe steht der Regierung auch beim Kampf gegen die Inflation bevor. Bisher war der Staat Inflationsantreiber Nr.1. Konsolidierte „Staatsfinanzen“ setzen allerdings die Kürzung der Subventionen voraus - mit entsprechenden Rückwirkungen auf die defizitären Betriebe und die Preise. Sollte die Regierung Vorschlägen zur Radikalkur folgen, wären Massenarbeitslosigkeit und weitere Massenarmut unvermeidbar. Folgt Mazowiecki aber einer vorsichtigeren Gangart, wie sie die Linken vorschlagen, ist das Ziel der Inflationsbekämpfung in Gefahr.
Bis jetzt ist das Bürgerkomitee und die von ihr gestellte Regierung nichts als ein Annex der Gewerkschaft Solidarnosc. Für die Regierung Mazowiecki wird es eine Überlebensfrage sein, daß sie selbst und das Bürgerkomitee sich von der Solidarnosc emanzipieren. Das Bürgerkomitee muß zu einer selbstständigen politischen Kraft mit eigenem organisatorischen Unterbau werden. Selbst das Charisma Walesas wird sonst den Zerfall des demokratischen Reformlagers nicht verhindern können.
Christian Semler
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen