: Und immer wieder schlägt das Gewissen
Der Überläufer Hoch knüpft an Traditionen im niedersächsischen Landtag an ■ K O M M E N T A R E
Wieder einmal hat in Niedersachsen das Gewissen eines Abgeordneten zugeschlagen. Wundersamerweise ruft die Stimme aus dem Inneren, mit Berufung auf das Grundgesetz wider den anmaßenden Fraktionszwang der Parteien, immer nur die Spezis einer politischen Couleur, und - welch ein Zufall - immer dann, wenn es um Sein oder Nichtsein der Regierung an der Leine geht. Mitte der 70er Jahre schaffte es Oppositionsführer Albrecht einzig mit seinem charmanten Lächeln - wie in CDU-Kreisen kolportiert wurde -, aus einer CDU-Minderheit eine Mehrheit bei der Wahl zum Regierungschef zu machen. Die SPD war das erstemal heftig geschockt, die U -Boote mußten in ihren Reihen sitzen. Diese „Gewissensentscheidung“ zugunsten Albrechts hat die SPD über lange Jahre nachhaltig lahmgelegt.
Landesvorsitzende und Oppositionsführer kamen und gingen, der Stern des Bahlsen-Keks strahlte, und Albrecht - sein ungewöhnlicher Griff zur Macht schien ein Einzelfall gewesen zu sein - wurde für höchste Würden im Lande gehandelt. Erst mit dem Aufstieg des Ex-Juso Chefs Gerhard Schröder schien die SPD wieder Tritt zu fassen. Schröder wußte, was er wollte, bekam seine Partei scheinbar in den Griff und schlitterte bei den letzten Landtagswahlen nur hauchdünn an einer rot-grünen Mehrheit vorbei. Seitdem beruhte Albrechts Macht auf einer Stimme, und das in einer Legislaturperiode, in der sich die Skandale der Landesregierung auch im bundesweiten Vergleich einmalig häuften: Spielbanken, Bestechung, illegale V-Leute, gesprengte Gefängnismauern alles in allem eine CDU, die längst geliefert war und ist.
Da schlug das Gewissen zum zweiten Mal für Albrecht. Einen Mißtrauensantrag der Opposition überstand er mit mindestens einer Stimme aus der SPD - zu einem Zeitpunkt, als niemand in seiner Fraktion Oskar Hoch hieß. Doch statt nun ernsthaft darüber nachzudenken, was das Gewissen seiner Leute immer wieder für Ernst Albrecht schlagen läßt, vertraute Schröder seiner eigenen Überzeugungskraft und glaubte sich qua seiner Politik des Gewissens aller SPD-Fraktionäre, einschließlich des potentiellen Nachrückers Oswald Hoch, sicher.
Soviel Naivität im ausgehenden 20.Jahrhundert ist schon erstaunlich. Jeder Hobbypsychologe weiß heute um die komplexen Motivationsstrukturen der Menschen in postindustriellen Gesellschaften. Eine schier undurchschaubare Wirklichkeit macht jede Gewissensentscheidung zu einem psychologischem Hindernislauf - erst recht, wenn man bedenkt, welche enorme Verantwortung gar auf Abgeordneten lastet. Und das alles ohne jede Hilfestellung bei der SPD. So fahrlässig ist Albrecht eben nicht. Bereits vor Wochen sollen seine Emmissäre dem mit sich ringenden Hoch Hilfestellungen angeboten haben. Wenn Schröder jemals Ministerpräsident werden will, sollte er für seine Fraktion wenigstens mal einen Psychologen in Dienst nehmen.
Jürgen Gottschlich
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