Wenn auswandern, dann jetzt!

■ Das bundesrepublikanische Mediengewitter um die Flüchtlinge aus der DDR kann auch altgediente Journalisten zur Verzweiflung treiben / Freiheit - eine Frage der Perspektive

Berlin (taz) - Wegen einer Grippe hatte der Kollege sich am Montag krank gemeldet. Blaß und nasetriefend stand er gestern morgen in der Redaktionsstube: „Ich halt's zu Hause nicht aus - das Fernsehen macht dich fertig.“ Wann man die Kiste einschaltet - Flüchtlinge, Schicksale, Freiheit. Beim Frühstück geht die Tortur weiter: Deutschland, Deutschland über alles, scheint der junge Autofahrer zu rufen, der auf etlichen Titelseiten den schwarz-rot-goldenen Wimpel des neuen Vaterlandes schwenkt. Selten waren die Anstrengungen der Medien, die westdeutsche Republik im Nationalismus zu ersäufen, so gigantisch wie in diesen Tagen.

Im ARD-Programm mußte die DDR-Serie Einzug in das Paradies dem eben dieser Hölle entronnenen Handwerker aus Thüringen auf den vorletzten Sendeplatz weichen. Bevor der Familienvater indes seine Dankesworte sprechen konnte, durfte der bayerische Ministerpräsident Streibl ins Bild. Nachdem der das Motto „Tu Gutes und rede darüber“ umgesetzt hatte, kam er auf die Ankömmlinge zu sprechen: „Die werden uns nicht auf der Tasche liegen.“ So wollen wir euch haben, liebe Landsleute! „Eine überwiegend sehr junge Bevölkerung, hochmotiviert und erfreulicherweise auch in gutem Gesundheitszustand“ hatte nachmittags eine Inspektion des bayerischen Sozialministers ergeben. Die Fernsehbilder bestätigten es. Da war kein kranker, kaputter, alter Typ dabei.

Die „Herzlichkeit der Deutschen“ ist grenzenlos. Wir sind uns einig und vor allem ein spitzenmäßiges Volk. Den Beweis liefert die 'Bild'-Zeitung. Schwarz-rot-gold umrahmt beschreibt sie „Deutschland, 12.September 1989“. Unter dem Aufmacher: „Sie küssen die Freiheit“ schlägt „Boris wie Blitz und Donner und genial wie Einstein“ zu, lebendig und klug sind wir. Weiß auf schwarz erklärt das Blatt Honecker und mithin die DDR - für tot. Und Autor Kohl verspricht: „Wenn wir zusammenstehen, werden wir es schaffen.“

Warum diese theatralischen Grüße, die so demonstrativ im TV gezeigte Hilfsbereitschaft? Natürlich, eine bessere Gelegenheit, die Segnungen des Westens in die Wohnzimmer zu knallen und der Weltöffentlichkeit den „guten Deutschen“ vorzuführen, gibt es kaum. Aber die Mobilmachung trägt auch deutliche Spuren der Angst vor dem eigenen Wahlvolk. Es ist doch nicht unbekannt, daß den Brüdern und Schwestern jahrelang nur Vaters gebrauchtes Jackett geschickt wurde und daß jetzt Tausende fürchten, die Familienangehörigen könnten rüberkommen. Wie erging es denn den Aussiedlern aus Polen? Jahrelang gelockt - kaum rübergekommen, war's aus mit der Liebe. Von Türken und Tamilen reden wir erst gar nicht.

Der Redakteur, nach der dritten Triefstory der Verzweiflung nahe: „Wenn es einen Grund gibt auszuwandern, dann jetzt.“ Doch da juchzt eine Kollegin auf - sie hat das „Streiflicht“ der 'Süddeutschen‘ entdeckt. Der Autor bedauert sein Unvermögen zu einer „grundsätzlichen Abhandlung über die Freiheit“ und fährt fort: „So begnügen wir uns mit der halbwegs gesicherten Aussage: Freiheit ist in erster Linie eine Frage der Perspektive. Die DDR zum Beispiel mißt etwa 450 Kilometer in der Länge und 300 in der Breite - und damit fällt sie im internationalen Vergleich einfach zu kurz aus, vor allem für Herrn Gerhard Meyer aus Ost-Berlin und sein Toyota-Sportcoupe, den Sieger der nächtlichen Drei-Länder -Rallye Ungarn-Österreich-Bundesrepublik“: Das war Balsam für die Seele.

peb