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Zivildienstleistende: „Soziale Kasper“ als Jobkiller

90.000 „Zivis“ sind ein enormer Wirtschaftsfaktor und keineswegs „arbeitsmarktneutral“ / Vordemokratische Arbeitsformen ersparen Milliarden an Sozialausgaben  ■  Von Gerhard Diehl

Nein, verlängert wird der Zivildienst nun doch nicht ein zweites Mal, es bleibt bei 20 Monaten gegenüber den 15 Monaten für die Wehrpflichtigen. Aber bei inzwischen über 90.000 Zivildienstleistenden (ZDL) - das sind mehr als zehnmal so viele wie zu Beginn der siebziger Jahre - hat er eine Größenrordnung erreicht, die ihn besonders im Sozialbereich, aber nicht nur da allein, auch für die Gewerkschaften zu einem Thema machen müßte.

Nach einer Richtlinie des zuständigen Bundesamts in Köln soll der Zivildienst arbeitsmarktneutral sein. Das ist er nicht. Vielmehr werden die „Zivis“ häufig als billige Arbeitskräfte mit stark eingeschränkten Rechten eingesetzt, ja gar „zur Spaltung der Belegschaften verwendet und möglicherweise als Streikbrecher benutzt“, wie es ihre Selbstorganisation formuliert hat. Die unterstützte in einem Aufruf zum (für ZDL verbotenen) Streik die Position der ÖTV in der Tarifauseinandersetzung für das Pflegepersonal. Sie wies darauf hin, daß einerseits 35.000 Alten- und KrankenpflegerInnen arbeitslos, andererseits mehr als 46.000 ZDL in Pflege- und Betreuungsdiensten eingesetzt werden.

2,2 Milliarden Mark gespart

Professor Jürgen Blandow, Sozialpädagoge an der Universität Bremen, hat in einer regionalen Arbeitsmarktstudie die Bedeutung der „Zivis“ als Personalgruppe des Wohlfahrtswesens untersucht. Die Daten stammen aus den Jahren 1986 und 1987, untersucht wurden 252 Träger der freien Wohlfahrtspflege mit über 1.000 Einrichtungen und Diensten und insgesamt 669 ZDL. Blandows Resumee: „Die ZDL meines Samples erbringen insgesamt 11,4 Prozent der gesamten Wochenarbeitszeit in den Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege, sie sind die zweitgrößte Beschäftigtengruppe; jeder siebte Vollbeschäftigte ist ein ZDL; in den Wohlfahrtsverbänden stellen sie ein Sechstel des Arbeitskräftepotentials; in drei der größten Arbeitsfelder (Beförderungsdienste, pädagogische, pflegerische Hilfsdienste, Rettungsdienst) beteiligen sie sich mit 15 bis 30 Prozent an der Gesamtleistung. (...) Jeder der ZDL schlägt (abzüglich eventuell aufzubringender Eigenmittel) mit 33.000 DM positiv zu Buche. Auf das Bundesgebiet bezogen wäre der Betrag etwa 2,24 Milliarden Mark, ein Betrag, der zum Beispiel ein Drittel des Gesamtaufwandes für die Jugendhilfe (ohne Verwaltung) im Jahre 1985 für das Bundesgebiet und West-Berlin ausmacht.“

Für Blandow ergibt sich hieraus eindeutig, daß die ZDL keine „arbeitsmarktpolitischen Neutren“ sind. Es gäbe keinerlei Hinweise darauf, daß ZDL „zusätzliche“, also außerhalb der Regelaufgaben wahrgenommene Tätigkeiten ausübten.

Der Bundesbeauftrage Peter Hintze behauptet zwar, die Wirksamkeit der sozialen Dienste sei nicht durch den Zivildienst bestimmt, und als Pauschalurteil wäre das auch in der Tat überzogen. Aber es gibt doch zahlreiche Dienststellen, in denen erklärtermaßen ohne „Zivis“ nur noch wenig laufen könnte. Und beim an sich begrüßenswerten Ausbau der ambulanten Dienste dürfte sich daran auch kaum etwas ändern.

Rent a „Zivi“

Ein Extremfall: Das Marburger Rote Kreuz brachte es fertig, zehn normale Arbeitsplätze abzubauen, die entstandene Lücke durch ZDL aufzufüllen und dabei noch rund 400.000 Mark im Jahr einzusparen. Die Sold-, Verpflegungs- und teilweise auch die Unterbringungskosten (im Durchschnitt 800 Mark) werden vom Bundesamt getragen, so daß die Einsatzstellen unter Umständen nur den Verwaltungsaufwand zu bestreiten haben.

Ähnlich wie Blandow hat der Volkswirt Cornelius Kraus die „klassischen“ ZDL-Tätigkeiten mit jenen verglichen, die über öffentliche Tarifverträge für Angestellte bzw. für Gemeindearbeiter bezahlt werden. Für die Bereiche Pflegehilfe und Betreuungsdienste sowie die individuelle Schwerstbehindertenbetreuung kommt er in seinem Beitrag Wie Wohlfahrtsverbände an Zivildienstleistenden Geld verdienen zu dem Ergebnis, daß diese durchaus mittels der „Vergütungen für Pflegepersonal und Hebammen im öffentlichen Dienst“ bewertet werden könnten.

Gegenüber dem öffentlichen Dienst hat Kraus eine Mehrarbeitszeit von gut sechseinhalb Arbeitstagen im Jahr errechnet. Und: „ZDL sind frei disponible, vielseitig einsetzbare Arbeitskräfte. Dies gilt sowohl bezüglich der Arbeitsinhalte als auch bezüglich der Arbeitsorte. Die vom Arbeitgeber äußerst flexibel gestaltbare Arbeitszeit, leicht zu minimierende Fehlzeit/Abwesenheit und hohe Arbeitsintensität kennzeichnen (die) quantitative Arbeitskraft.“

Größte Leiharbeiter-Zentrale

Tatsächlich ist es häufige Praxis, die „Zivis“ beispielswiese als „Mädchen für alles“ in Jugendherbergen und Heimen, je nach Bedarf frühmorgens, spätabends und an Wochenenden zu verplanen. Die Zivildienst-Regelungen sind, schon wegen der vielbeschworenene „Wehrgerechtigkeit“, aus der Wehrpflichtgesetzgebung abgeleitet. Die innerbetriebliche Mitbestimmung ist dabei weitgehend ausgeschlossen, ein „guter Chef“ ist Glückssache. Wohl kann in Dienststellen mit mindestens fünf „Zivis“ ein Vertrauensmann gewählt werden und auch können in den Sitzungen des Personal- oder Betriebsrats die gewählten Vertreter mit beratender Stimme teilnehmen, wenn ZDL -Angelegenheiten mitbetroffen sind, dies gilt jedoch nicht in Beschäftigungsstellen der Länder, Kommunen oder Kirchen.

Die ZDL haben für den Betriebs- oder Personalrat weder ein aktives noch ein passives Wahlrecht.

„Na und“, könnte man sagen, „das macht doch nichts, für die paar Monate...“ Dies wäre jedoch eine verkürzte Sicht der Dinge, läßt sich dieses Problem doch auch im Zusammenhang mit der „Deregulierung“ diskutieren. Ebenso wie etwa ABM -Kräfte, Schwesternhelferinnen, dienstverpflichtete SozialhilfeempfängerInnen gehören ZDL mit zum „zweiten (und dritten) Arbeitsmarkt“. Sie treten, wie Kraus kritisiert, ungewollt in Konkurrenz zu vergleichsweise teuren, niedrig qualifizierten flexiblen Arbeitskräften wie Teilzeit- und Leiharbeitskräften, besonders zu Ausländern und Frauen.

„Die von den Zivildienstleistenden bewältigten Aufgaben und die von ihnen disziplinarisch forderbare Leistung könnten sich inoffiziell als Meßlatte für die Leistung auch der Hauptamtlichen etablieren. Durch die dem Zivildienst immanente Begrenzung seines Einsatzbereiches auf unterste Beschäftigungsgruppen wäre damit zumindest eine Erhöhung der dortigen Einstellungsanforderungen verbunden.“ Grimmig spricht die Selbstorganisation in diesem Zusammenhang vom „sozialen Kasper“, freundlich, diensteifrig und pflegeleicht. Vor diesem Hintergrund wird auch die Polemik in ihrer Zeitschrift 'Ausbruch‘ einleuchtend: „Das größte Leih- und Zeitarbeitsunternehmen ist hierzulande das Bundesamt für den Zivildienst. Es gab 1986 ebensoviele legale LeiharbeiterInnen wie Zivildienstleistende.“

Gewerkschaften mucken auf

Die Stellungnahme eines Vorstandsmitglieds der IG Metall für die Kriegsdienstverweigerer zeigt ebenso wie die Haltung der neuen IG Medien, daß die Gewerkschaften sich bei diesem Thema zu Gehversuchen aufmachen. Für die ÖTV, klar, ist es durch den ganzen Pflegebereich schon länger ein „Dauerbrenner“.

Ab 1990 können sich, wenn die geplante Satzungsänderung Wirklichkeit wird, Zivildienstleistende in der ÖTV organisieren, was von Wolfgang Pieper aus der Stuttgarter Bundeszentrale zu erfahren war. Er teilt die Ansicht, daß „Essen auf Rädern“ oder viele Heime ohne „Zivis“ nicht mehr funktionieren würden und sieht das Dienstrecht als Haupthindernis an. Im Rettungsdienst, wo die ZDL häufig deutlich über 30 Stunden pro Woche harte Arbeit leisten müssen, hat es nach Piepers Worten schon Verbesserungsinitiativen beim Bundesamt gegeben, die jedoch offenbar auf Granit gestoßen sind. Neben dem Angebot der Rechtsauskunft hat sich die ÖTV der Informationskampagne der IG Metall angeschlossen.

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