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Kambodschanische Flüchtlingslager unter Beschuß

UNO-Mitarbeiter aus dem Lager „Site 2“ in Thailand wurden evakuiert / Lagerinsassen bei guter Versorgungslage zur Passivität verurteilt / Widerstandskoalition bereitet sich auf militärische Auseinandersetzung mit der kambodschanischen Armee vor  ■  Aus Bangkok Ingo Günther

Wegen schwerer Kämpfe zwischen kambodschanischen Soldaten und Guerillas sind am Mittwoch über 100 Mitarbeiter westlicher Hilfsorganisationen aus dem größten kambodschanischen Flüchtlingslager in Thailand evakuiert worden. Ein UNO-Mitarbeiter erklärte, Soldaten hätten Stützpunkte der nichtkommunistischen Guerillagruppe KPNLF nahe dem Lager „Site 2“ mit Granaten beschossen.

An die 300.000 Flüchtlinge leben in drei getrennten Lagerkomplexen in unmittelbarer Nähe der Grenze zu Kambodscha. „Site 2“ wäre nach Phnom Phen die zweitgrößte Stadt Kambodschas, läge sie in Kambodscha.

Die 180.000-Einwohner-Metropole erstreckt sich auf sechs Quadratkilometer einstöckiger Bambus- und Strohhütten. Die einzige Asphaltstraße führt ringförmig in weitem Bogen an das Lager heran. Ein Heer rotangestrichener Tankwagen versorgt das Lager im Minutentakt mit Wasser. Wachtürme und Stacheldrahtzäune signalisieren, daß es keine offenen Lager sind.

Eigentlich fehlt es hier an nichts. Nichts Materielles jedenfalls, wenn man den Worten von Mitarbeitern des Roten Kreuzes glauben darf. Insgesamt ein Drittel der Lagerbevölkerung wurde im Lager geboren, kennt mithin nichts anderes als die Lagerwelt von innen und eine automatische Fürsorglichkeit von außen, gelangweilte, nicht arbeitende Eltern. Video schauend wartet man auf den Tag X. Der Tag, an dem man wieder zurück kann ins Heimatland. Nach Kambodscha, Kamputschea, die Khmer Republik, was auch immer. Die erzwungene Passivität der Lagerbewohner läßt den relativen Komfort der Lager um so absurder erscheinen. Viele fühlen sich zu Bettlern degradiert, möchten lieber arbeiten, aber das ist nur in sehr begrenztem Rahmen möglich. Vergewaltigungen sind relativ häufig, Amateurabtreibungen an der Tagesordnung. Umsiedeln in ein drittes Land will kaum einer.

Die Lager liegen in strategisch wohlplazierten Positionen. Im Klartext müßte eine einfallende Armee mitten durch die Lager marschieren. Die meisten sind gerade mal ein paar hundert Meter von der Grenze entfernt. In Artillerieschußweite liegen sie allemal. Erst 1985, nachdem vietnamesische Angriffe auf die Lager zu drastischen Verlusten auch der zivilen Lagerbevölkerung geführt hatten, wurden die drei großen Zentrallager etabliert, die besser zu versorgen sind und nicht ganz so auf dem Präsentierteller liegen. Von den zivilen Lagern und deren zahlreichen militärischen Satellitencamps aus operieren die drei Guerillaarmeen der KPNLF (Khmer Peoples National Liberation Front), Khmer Rouges und die Sihanouk Armee.

Neutrale Khmer-Lager ohne politisch-militärische Affiliation gibt es indes nicht. Je nachdem an welcher Stelle die Kambodschaner über die Grenze geflüchtet sind, kamen sie automatisch in den Machtbereich der einen oder anderen Gruppe. 18.000 Guerillas gehorchen Sihanouks Kommando und 12.000 gehören der KPNLF an, unter der Führung des als senil geltenden Son Sann, einem Ex-Premier.

Aber nur die 40.000 Mann kampferprobter martialischer Khmer Rouges gelten als ernstzunehmender militärischer Faktor, denen die 40-50.000 Regierungstruppen aus Phnom Phen nicht ohne vietnamesische Hilfe standhalten könnte, darauf setzt jedenfalls Prinz Norodom Sihanouks Sohn Norodom Ranariddh. Bewunderung und Stolz schwingt mit, wenn die Khmer über ihre hardgesottenen und gut ausgerüsteten Brüder der Khmer Rouges sprechen, aber auch Angst.

Wie sie die verbissene Kriegsmaschinerie nach dem bevorstehenden Abzug der Vietnamesen und der gescheiterten Pariser Kambodscha-Verhandlungen zum Halten bringen können, bereitet den KPNLF und Sihanouk-Khmer Kopfschmerzen.

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