: Vorsätzliche Tabuverletzungen
■ „Marocain“ - ein Film von Elfi Mikesch um 22.40 Uhr im ZDF
Eines ist sicher: Das gibt Prügel. Zunächst einmal für Elfi Mikesch und dann für das „Kleine Fernsehspiel“. Denn, so werden die Befunde lauten, hier wurde einmal mehr eines dieser optisch-akustischen Kreuzworträtsel gesendet, die man so gar nicht versteht. Richtig ist, daß Marocain rätselhaft beginnt: Eine knochige Hand schiebt kleine Schrifttäfelchen hin und her. Ein arabisch anmutender Jüngling lehnt an einem Fenster. Ein mit Aufklebern übersäter Koffer steht in einer Ecke. Und eine alte Frau, von der die Kamera zunächst nur ihr blau-graues Haar zeigt, während ein Liebesgedicht in gebrochenem Deutsch vorgetragen wird: „Dein Haar ist Glut. In Deinem Haar, Tabak gemischt mit Opium und Zucker. Ich sehe in Deinem Haar die Nacht ohne Ende. Die Nacht. Unendlichkeit.“ Dann zerfetzt das schrille Pfeifen eines Wasserkessels die Poesie.
Elfi Mikesch hat mit ihren Filmen die Zuschauererwartung stets gegen den Strich gebürstet; immer schon hat sie dem industriellen Kino andere Bilder und andere Geschichten entgegengesetzt. Hyäne-Filmproduktion nennt die Regisseurin die Firma, die sie mit Monika Treut betreibt, und der Name scheint Programm: verdauen, was anderen unverdaulich. Tabuverletzungen sind da vorsätzlich. Ohne den Bogen der Parabel überspannen zu wollen, wäre es reizvoll, das Bild auch auf die ökonomischen Möglichkeiten der Hyänen im bundesdeutschen Filmförderdschungel zu projizieren. Allzu oft hieß es nämlich: Fastenzeit für Hyänen.
Marocain ist eine Geschichte von Mutter und Tochter. In kaltes blaues Licht getaucht, umkreisen sich die beiden Frauen mit noch kälterer Lakonie. „Nichts ist einfacher als zu sterben, sagt meine Mutter. Sie tut es gerade“, erklärt die Tochter zur Kamera und serviert danach den Tee. Am Ende des Films ist Malika, die alte Frau, tot. Dazwischen: Erinnerungen, fragmentarisch und ineinandergeschachtelt. Hier wurzelt die Rätselhaftigkeit des Films. Marocain läßt Ströme der Erinnerung ineinanderfließen, vermischt sie und dividiert sie wieder auseinander. Das ist meilenweit von der sonst üblichen Häppchen-Dramaturgie entfernt. Die Basis des gemeinsamen Erinnerns ist der Mann, der beide Frauen verbindet. „Dein Vater...“, beginnt die Mutter, doch die Tochter unterbricht: „Sag nicht immer dein Vater, er war dein Mann.“ Das Bild des Vaters wird nicht konturiert. Er bleibt ein Phantom. Seine Hinterlassenschaft: der mit Aufklebern übersäte Koffer. Die Tochter holt eine Uniform daraus hervor - der Vater war Fremdenlegionär, stationiert in Afrika. Der Mann als ewiger Soldat, da bedarf es keiner Individualisierung.
Auch die Mutter war in Afrika. Sie reiste auf den Spuren ihres Gatten, der dort eine Geliebte und eine weitere Tochter hatte. Doch wenn Malika von Hadisi Maria, der marokkanischen Tochter des Vaters spricht, liegt keine Verbitterung in ihren Worten. „Ich pfeife auf Grenzen“, und dann verbessert sie sich: „Ich habe gepfiffen.“ Das ist territorial und moralisch gemeint. Sozusagen als Gegenentwurf zum begrenzenden Soldaten, der heimatlose Kinder, Fotografien von Erhängten und eine Uniform mit Orden zurückgelassen hat. Während ihrer Spurensuche in Marokko entwickelte sich eine Liebesbeziehung zu einem Marokkaner, der zudem noch 35 Jahre jünger war als sie. Doch der Geliebte ist plötzlich weg, und wieder ist die Frau alleine. Allein mit ihren Erinnerungen, allein mit dem Nachklang eines Liebesgedichtes. Zum Sterben ist sie zurückgekehrt nach Deutschland.
Als dritter Blick auf das fremde Land kommt die Sicht der Tochter hinzu. Als Tourist sei sie in Afrika gewesen, und um das Erlebte zu bewahren, hat sie es mit der Super-8-Kamera konserviert. Diese verwackelten, von warmen Farben dominierten Bilder sind der kalten Enge des Mutter-Tochter -Kammerspiels gegenübergestellt. Doch die skizzenhafte Flüchtigkeit des Super-8-Films enthüllt nichts, sie bildet nur ab. Ein Schwarzer, der neben einem fahrenden Wagen herrennt, seine Hand an die Scheibe legt und dann wieder verschwindet - ein Erinnerungsbild.
Das eine oder andere Rätselbild der Eingangssequenz läßt sich am Ende des Films dechiffrieren. Das Entschlüsseln gelingt jedoch nicht durchgehend. Wer will auch die Frage beantworten, warum sich jetzt dieses und nicht ein anderes Bild im Gedächtnis eingegraben hat?
Friedrich Frey
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