: DIE HEIMAT ALS SCHÖNER GROSSBETRIEB
■ Ein Symposium und eine Ausstellung zum Märkischen Viertel und der Zukunft von Großsiedlungen
Es hätte überall gebaut werden können: in Rio, Nairobi oder auf dem Mond. Es hätte dort wie hier genauso ausgesehen: glatt und steril, ein Viertel auf Rädern, das nur zufällig im märkischen Sand steckengeblieben ist. Das Hochhausgebirge, aufgegangen aus dem Ornament geometrischer Planung, hatte nur einen Sinn, nämlich Menschen so in sich hineinzuzwängen, als seien diese selbst schon abstrakte Figuren ohne Identität und immer reisefertig. Die Gesellschaft sei im Aufbruch, hieß es damals.
Heute ist alles ganz anders: 25 Jahre nach seiner Errichtung präsentiert sich das Märkische Viertel als ein scheinbar gelungenes Konzept städtebaulicher Planung, in dessen steinernen Kästen sich drei von vier Mietern so sauwohl fühlen, daß sie gar nicht mehr wegwollen. Während früher die Bewohner als entfremdete Habenichtse und faule Tagediebe stigmatisiert wurden, greift jetzt der Anspruch auf „soziale Integration“ Platz und nun läßt die flotte Deklarierung von „Gemeinschaftsgefühl“ die Underdogs von gestern heute auf einmal besser dastehen als der Berliner Durchschnitt. Schließlich sind wir immer noch Frontstadt und müssen zusammenhalten, gerade jetzt. Endlich haben Wohnumfeldverbesserungen, wie der bunte Anstrich von Treppengeländern, der Bau von asbestverseuchten KiTas und Schulen, lustigen Einkaufs- und Carparks zu einer Selbstfindung des Viertels beigetragen, die der Kreuzberger Szene bald Konkurrenz machen wird, so hoffen die Macher. Zum vollendeten Glück fehlt nur noch die U-Bahn, die aber schon bald ins Zentrum rumpeln soll.
Im Aufwind solcher Prognosen fand zur 26. Geburtstagsfeier des Märkischen Viertels ein eintägiges Symposium mit dem Thema „Die Zukunft der Großsiedlungen“ statt, das man schleunigst wieder vergessen sollte, denn wirklich Neues war nicht zu hören. Eingeladen hatte die Berliner GeSoBau (Gesellschaft für sozialen Wohnungsbau), deren quirliger Boß Brüning schon am Vortag mit neckischen Slogans („MV...in Berlin ganz oben!“) und richtungsweisenden Einsichten („von der Idee zur Heimat“) knallharte Zielvorgaben schuf. Es ging somit um die Beschwörung eines Corpsgeistes, mit dem das neue Image des Viertels gepflegt werden sollte, ein Image, das selbst triste Betonburgen in flirrende Fassaden verzaubern kann, wie die präsentierten Hochglanzfotos in der gleichzeitig eröffneten Ausstellung beweisen. Gemeint war also weniger die kritische Bilanz über einen Wohntyps der sechziger Jahre, von dem unser Bausenator vielleicht träumt (ohne die alten Fehler zu wiederholen!!), wenn er mit immer neuen Rekordzahlen zum Wohnungsbau jongliert. Gemeint war statt dessen, daß möglichst laut ein feierliches Loblied auf die gelungene Rettung des Märkischen Viertels angestimmt werden sollte, wobei die angekündigte Hochkarätigkeit der Sänger (vom Ministerialdirektor bis zum TU-Prof), sobald sie den Mund auftaten, ebenso zerbröselte wie draußen in der Siedlung der Beton. Bloß ein kritischer Baß durfte mitbrummen. Die Architekten von damals fehlten und neue trauten sich wahrscheinlich nicht. Das machte aber nichts, denn die Zukunft von Großsiedlungen, faßt man das Ergebnis zusammen, liegt in ihrer strukturellen und technischen Verwaltung.
Mehr denn je ist nach den ersten Schwierigkeiten Anfang der siebziger Jahre im Märkischen Viertel ein Schollengefühl eingekehrt, das sich selbst Heimat schafft. Die Peripherie rückt zusammen, will wer sein. Auch Defizite, so wußte der Marktforscher Dr. Otto Hafermalz zu berichten, sind dort oben nicht spezieller Natur, sondern tauchen nur mehr da auf, wo es bei allen Deutschen hapert: Wie der Rest der Nation lebt der märkische Viertler die meiste Zeit im Bad und in der Küche, liebt Sauberkeit und Ordnung und haßt nichts so sehr wie dreckige Ecken und muffig-feuchte Plätzchen. Ganz falsch wäre es nun, den Mieter erstmal richtig auszuschimpfen, wenn Schimmelpilze und stickige Luft in der Bude hocken, weil er zuviel kocht und badet. Das würde Aggressionen und Verwahrlosungswillen schaffen, nicht Kooperation und Bleibegefühl. Darum empfiehlt es sich, so Hafermalz ganz im einklang mit der GeSoBau, den Mieter ernstzunehmen und die Wohnung als ein „Produkt“ wie Schokolade oder Hundefutter zu sehen, deren Wert vom Anbieter ständig gesteigert werden muß, damit der „Kunde“ mit der „Qualität der Ware“ zufrieden ist.
Überhaupt scheinen die Zukunftsprobleme von Großsiedlungen nur noch betriebswirtschaftlicher Art zu sein. Nachdem das Siedlungsmodell architektonisch und soziologisch gescheitert ist, geht es jetzt nur noch um die ewigen Gesetze des kapitalistischen Marktes, nach denen die Betonburgen verwaltet werden. Sozialästhetischer Firlefanz ist out. Sozusagen „von innen“ (Heuer, Unternehmensberater) werden, ähnlich wie bei der „organischen“ Entwicklung einer Stadt, „geballte Kreativität“ und anspruchsvollere Kräfte frei, die das Wohnen und Leben selbst in die Hand nehmen, Verantwortung zeigen. Die Großsiedlung gleicht so einem modernen Betrieb, einem „ökonomischen Organismus“, der, will er gutgehen, profitabel wirtschaften muß, flexibel reagieren soll und zugleich individuell bleiben kann.
So werden in diesem „Organismus“ aus Sattheit und gestellter Behaglichkeit, geschöntem Beton und Künstlichkeit wohl diejenigen, das Salz in der faden Suppe bleiben, die genau das nicht wollen, was Heimat im Märkischen Viertel ausmacht; diejenigen, die sich weder mit einer „kulturellen Nischologie“ (Hermann Glaser) zufrieden geben, noch dem bloßen Organisieren eines gesteigerten Standards huldigen, sondern Urbanität mit all ihren Widersprüchen leben wollen. Es könnten jene sein, wie Eberhard Kulenkampff meinte, für die die Stadt aus der Retorte immer nur gestalterische Wiederholung bleibt, und der man sich widersetzen muß, damit sie selbst ein Gesicht findet. Am Ende einer Entwicklung stehen Großsiedlungen wie das Märkische Viertel zugleich am Anfang eines städtischen Prozesses, der, will er Heimat geben, von den Leuten bestimmt werden muß, die darin leben, und nicht von jenen, die Siedlungen planen, bürokratisch verwalten, guten Willen vortäuschen und letztendlich daran verdienen. Selbstgewollte und selbstgefundene Spielräume müssen individuell und gemeinsam zurückerobert werden: ohne Angst, frei, nicht bevormundet, notfalls durch Zerstörung, so Kulenkampff.
Zum Geburtstag findet gleichzeitig eine Ausstellung statt, die anhand von Fotos, Zeitungsausschnitten und kurzen Kommentaren die kurze Geschichte des Märkischen Viertels zeigt, und mehr als sie vielleicht will, die Geschichte einer Illusion aufrollt. In drei Teilen - einer über die Entstehung der Siedlung, einer über die geplante Entwicklung des Viertels und schließlich einer Werkbundbeigabe, die Fotos zu gestalterischen Maßnahmen ausstellt - wird ein Begriff des immer Unfertigen, Zugigen wahrnehmbar, den selbst die vielen bunten Fotos mit ihren vielen schmucken Häusern, die durchs Herbstlaub schimmern, eher noch unterstützen, als das sie ihn vertreiben. Irgendwie wird man das Gefühl nicht los, das Märkische Viertel steht immer noch auf Rädern, grün und bunt verziert zwar, aber trotzdem weiter im Aufbruch. Dazu ist eine lesenswerte Dokumentation zur Geschichte des Viertels von Alexander Wilde erschienen, die eben etwas darunter leidet, daß ihr Bildteil jenes Postkartenimage vorgaukelt, das versucht, das Märkische Viertel richtig schön sein zu lassen. Fast sieht sie wie eine Gartenstadt aus, meint man.
rola
Die Ausstellung ist noch bis zum 29.9. in der Bettina-von -Arnim-Schule, Senftenberger Ring49 in 1-26 zu sehen. Alexander Wilde: Das Märkische Viertel, erschienen bei Nicolai, Berlin 1989, 29,80Mark.
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