: Wird die Sowjetunion sozialistisch bleiben?
■ Hoffnungen und Besorgnisse aus längst vergangener Zeit - Replik auf einen „nachdenklichen“ Diskussionsbeitrag Von einer „Wieder-Kombinierung“ der Elemente Sozhialismusaufbau und Massenbewegung kann in der UdSSR nicht die Rede sein
Erhard Stölting
Einen nachdenklichen Artikel hat Detlev Pracht über das „Neue Denken“ in der Sowjetunion, seine Widersprüche und seine strategische Bedeutung geschrieben. Die linken Bedenken hierzulande greift er auf, wägt sie in einem politischen Zusammenhang und verweist darauf, daß das eigentlich illusionäre Absehen von Klassen bzw. gesellschaftlichen Interessen unter gegebenen Umständen doch der Realisierung des Sozialismus dienlich sein kann. Der Begriff des „Neuen Denkens“ sei strategisch und politisch zu verstehen. Wer den Appell an den guten Willen aller Menschen guten Willens allerdings wörtlich nehme, verkenne die gesellschaftlichen Unterschiede und die in ihnen enthaltenen Interessen, denen gegenüber es keine Neutralität gibt.
Die gängigen Bedenken treffen etwa die sowjetische Außenpolitik. Sie hat die Gefahr eines Atomkriegs zwar vermindert, aber auch die Unterstützung von Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt weitgehend eingestellt. Aber spätestens seit Stalin war eine solche Unterstützung nie etwas anderes als Teil einer globalen Machtpolitik. Es ging um politische Einflußzonen und die Schwächung des Gegners. Die USA haben den afghanischen Widerstand schließlich auch nicht aus Begeisterung für die Selbstbestimmung der Völker oder aus Jubel über den islamischen Fundamentalismus bewaffnet.
Vor allem zur sowjetischen Innenpolitik ist Prachts Argumentation jedoch problematisch: Er unterlegt dem sowjetischen Umbau einen Sinn, den er weder auf den ersten noch auf den zweiten Blick hat. Die Befürchtung des 'Konkret'-Herausgebers Gremliza, daß mit der Perestroika der Sozialismus selbst in Gefahr gerate, kann Pracht kaum entkräften. Unrecht hat Gremliza allenfalls mit seiner Annahme, daß die „soziale Revolte, das Erbe der Aufklärung“, liquidiert werde. Das haben spätestens Stalin und seine Helfershelfer abgeschafft, und seine Nachfolger haben es nicht wiederbelebt.
Der Sozialismus, so wie er bisher war, ist gerade in dem gescheitert, was er unbedingt hätte leisten sollen: Der Versuch einer planvollen Entwicklung der sozialen und ökonomischen Beziehungen wurde zwar erst von Stalin in die Praxis umgesetzt, aber die Idee war keineswegs umarxistisch. Die zentrale Planung konnte als plausible Alternative zu den entfremdeten Reproduktionsformen kapitalistischer Gesellschaften erscheinen. Die Aufhebung des Marktes übergangsweise auch seine Kontrolle - entsprach der Hoffnung, die menschliche Vernunft zum Lenker der Geschichte zu machen.
Das ist völlig schiefgegangen und von den sowjetischen Ökonomen selbst hinreichend analysiert worden. Die schmalen industriellen Erfolge, die die Planwirtschaft hervorgebracht hat, sind unter solchen Vergeudungen von Arbeit, Gesundheit und Ressourcen vor sich gegangen, daß das Wort „Vernunft“ in diesem Zusammenhang nur noch ironisch verwendet werden könnte. Anstatt für die Produktion gesellschaftlichen Reichtums zu sorgen, hat sie den Mangel verallgemeinert. Schließlich hat der reale Sozialismus die Menschen in einer Weise entrechtet und entmündigt, daß er, und nicht der Kapitalismus, zum Synonym für Unfreiheit geworden ist. Daß die Leute es satt haben, Schlange zu stehen und sich schurigeln zu lassen, ist verständlich. Die großen Plakate von Marx und Lenin und die roten Fahnen haben zu lange im schlechten Wetter gehangen, als daß sie für jene, die sich in ihm den Schnupfen holten, noch ansehnlich wären. Die Frage, ob Sozialismus oder nicht, ist ihnen ziemlich schnuppe. Die Leute in Kusbass brauchen Seife und die in Minsk Gemüse. Da ist jedes Mittel recht, das hilft.
Daß es gegenwärtig noch schlechter geht als vor dem Beginn der Reform, ist im Prinzip kein Argument gegen sie. Eine Reform, die nicht erst einmal Chaos produziert, wäre keine. Oder, mit Kurt Hager zu reden, während der Renovierung wird die Wohnung noch ungemütlicher als vorher. Allerdings gibt es bei Renovierungen meist ein Gesamtkonzept, die Perestroika hat bislang nur eine ungefähre Richtung. Der Streit geht darum, wie es weitergehen soll; und das geschieht bereits unter politischen Bedingungen, die in nichts mehr den vorherigen Zeiten ähneln.
Klar ist nur, daß die zentrale Planwirtschaft nicht klappte. Die Mängel - Vergeudung, Ineffizienz, Schlamperei, Korruption, Verantwortungslosigkeit und Armut - sind, wie man inzwischen weiß, keine Erfindung Breschnews. Sie existierten seit der Schaffung der Planwirtschaft selbst, und nicht einmal dem wahnwitzigen Terror 1937/38 war es gelungen, sie zu vermindern.
Sollte es vielleicht eine Planung schaffen, an der die gesamte Gesellschaft beteiligt ist? Diese Vorstellung Prachts ist altehrwürdig und menschenfreundlich. Aber sie sollte die bislang existierenden Mechanismen genau mitbedenken: Dem Modell nach waren nämlich schon bisher die Produzenten aller Ebenen beteiligt; und sie haben ihren Einfluß trickreich genutzt, um die immer knappen Ressourcen, Werkzeuge usw. horten zu können und mittels weicher Normen hohe Prämien zu kassieren. Nur so war es möglich, überhaupt zu überleben. Pracht müßte ferner zeigen, wo in der sowjetischen Diskussion sein Modell überhaupt vorkommt. Die sowjetischen Ökonomen zumindest halten gegenwärtig den Markt für schneller, flexibler und effizienter als die zentrale Planung.
Devisen schließlich kommen nur über den Weltmarkt ins Land, und will man auf den etwas anderes exportieren als Rohstoffe, muß man Waren anbieten, deren Qualität und Preise konkurrenzfähig sind. Das heißt man muß sich den Mechanismen des Weltmarktes unterwerfen. Die Bereitschaft dazu zeigen jene Gesetze, die die Schließung unrentabler Betriebe, die Entlassung überschüssiger Arbeitskräfte und die Einrichtung von Arbeitslosenunterstützung vorsehen.
Pracht hat Recht, wenn er darauf hinweist, daß Gorbatschow keineswegs von einer Beseitigung des Sozialismus, sondern von seiner Vervollkommnung spricht. Aber vielleicht verkennt er an dieser Stelle die Bedeutung Gorbatschows. Die Reformen haben bisher zumindest erreicht, daß ein Generalsekretär anders als zu Zeiten Breschnews und Tschernenkos - nicht mehr qua Amt als der größte lebende Denker gilt. In den sowjetischen Diskussionen genügen nicht einmal mehr Zitate von Lenin oder Marx als Wahrheitsbeweise. Das „Neue Denken“ hat mithin eine gewisse Bedeutung im Partei- und Staatsapparat, aber viele andere denken inzwischen auch und zwar öffentlich. Vor allem jedoch wird nun die Komplexität auch der sowjetischen Gesellschaft deutlich. Pläne haben da einen großen Einfluß, aber nie können sie eine Gesamtentwicklung steuern.
Pracht verweist zu Recht darauf, wie sehr der Marxismus in den sozialistischen Ländern diskreditiert worden ist. Die jetztigen Umwälzungen kommen in dieser Hinsicht mindestens 20 Jahre zu spät. Den kritischen Marxisten von einst hat man den Marxismus gründlich verleidet. Überhaupt nicht diskreditiert ist hingegen der „goldene Westen“. Das Bild von Reichtum, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie ist auch für jene anziehend, die sich besser auskennen. Daß es östliche Naivitäten gibt, die die westlichen Fassaden mit dem Gebäude verwechseln, ist unbestritten. Aber diese Naivitäten sind nie geringer als die westlichen gegenüber dem Osten gewesen. Deshalb ist es schlicht falsch zu sagen, daß es im Osten nicht „westele“. Die Furcht vor dem „Westeln“ ist aber zunächst eine Obsession der westlichen Linken. Was die Reformbewegungen wollen, ist nicht primär einen besseren Sozialismus, sondern eine bessere Gesellschaft.
Natürlich hat die freiere Luft in der heutigen Sowjetunion alle möglichen Ideen und Ideologien in Umlauf gebracht. Pracht sieht in den möglichen Irrtümern eine Chance des Erkenntnisfortschritts. Aber vielleicht ist er auch hier zu optimistisch. Die Wirksamkeit politischer Ideen hängt allein von ihrer Plausibilität für die gerade Beteiligten ab, egal wie es zu dieser Plausibilität gekommen ist. Überdies umfassen die politischen Bewegungen, die sich in der Sowjetunion entfalten, ein großes Spektrum. Opa Breschnews Sozialismus ist darin kaum noch enthalten. Was die Fahne der Planwirtschaft, der Zensur und des sozialistischen Heroismus noch hochhält, ist heute ohne Antisemitismus und großrussischen Chauvinismus kaum noch zu haben. Die Idee, nur antisozialistischen Kräften den Mund zu verbieten und ansonsten Meinungsfreiheit zuzulassen, zielt implizit auf die Abwürgung aller Diskussionen. Denn wer die Häscher losschickt, definiert auch, was „antisozialistisch“ ist.
Wenn es hingegen zu einer Demokratisierung komm, ist die Entwicklung nicht mehr geschichtsphilosophisch kalkulierbar. Um so erstaunlicher ist, daß Pracht in diese ganzen sowjetischen Komplexität das „Grundmuster der sowjetischen Erneuerung“ entdeckt: Die „Wieder-Kombinierung dieser beiden Elemente, Sozialismusaufbau als Massenbewegung“. Wer das nicht sehe, plädiere entweder insgeheim für den Status quo ante oder sei „schlicht ignorant“. Dem Ignoranten drängen sich da natürlich einige Fragen auf. Erstens die, wie Pracht zu dem „Wieder“ kommt; meint er die Mobilisierungsphase 1935 bis 1938? Oder meint er die Entwürfe aus den 20er Jahren, die allesamt Papier blieben? Zweitens könnte man neugierig darauf sein, wo er in der sowjetischen Realität seine basissozialistischen Hoffnungen verankert.
Möglicherweise projiziert Pracht eher ein Wunschbild in Verhältnisse, die dazu nicht passen, ein Wunschbild, das sich einer intensiven Lektüre von Klassikern und Halbklassikern verdankt. Der Sprachduktus jedenfalls entspricht gerade in diesen Passagen eher dem eines berühmten sowjetischen Staatsmannes. (Der formulierte Sätze wie: „Bekanntlich sind die Trotzkisten faschistische Spione“ oder: „Wer hat wohl recht, der jämmerliche 'Theoretiker‘ Bucharin, der sich als Feind des Sozialismus gezeigt hat, oder Lenin?“). Entsprechend formuliert Pracht: „Muß die Vision einer bewußten und transparenten Gesellschaftsentwicklung 'als Plan aller‘ fallen gelassen werden? Nein.“
Jeder, der bei derartig stark vertretenen Positionen Lust hat nachzufragen, wird es mit einer etwas leiseren Stimme tun - etwa bei der Aussage, daß die Partei als „Mittel für die anstehenden Auseinandersetzungen gewonnen“ werden müsse. Der schüchterne Leser fragt sich, was heißt hier „Mittel“, und Mittel von wem? Schließlich sei das Gelingen der Perestroika nur durch die „Erneuerung des 'moralischen‘ Bewußtseins der Kommunisten als Kommunisten“ möglich. (Mit der Moral hapert es bei einigen Mitgliedern der KPdSU tatsächlich.) Wer sonst wenn nicht die Kommunisten solle sich das Ziel setzen, die apathische Haltung der Bevölkerung in eine aktive zu verwandeln? Aber kommt diese Zielsetzung nicht ein wenig spät?
Die sowjetische Gesellschaft ist inzwischen alles andere als apathisch, nur bewegt sie sich nicht in jene Richtung, auf die Pracht setzt. Ein Übelmeinender könnte denken, Pracht habe die Epochen verwechelt und laufe mit den knarrenden Stiefeln der jungen Kader von 1930 durch Bilderbücher.
Das zentrale Argument Prachts ist jedoch bemerkenswert, weil es ein politisch-moralisches Bewußtsein offenlegt, das nicht nur seines ist. Es ist richtig, daß Marx sich über die Ideen der Humanität, über die bürgerliche Gleichheit, über die allgemeinen Menschenrechte usw. lustig gemacht hat. Er konfrontierte sie mit ihrer Realisierung und ihrer legitimatorisch verschleiernden Funktion in der bürgerlichen Gesellschaft.
In der Tat kommt „der Mensch“ in den historisch konkreten Gesellschaften nur als konkret gesellschaftlicher vor. Nur über Strukturen, Interessen, Ideologien usw. lassen sich gesellschaftliche Entwicklungen erklären. Ebenso werden „die Menschen“ nur als konkret gesellschaftliche aktiv. Wo jedoch die ethische Dimension auf gesellschaftliche interessen reduziert wird, ist - ob Marx das meinte oder nicht - der Weg zur Bestialität offen.
Ein großer Teil der Linken hat sich gegen die Apartheid in Südafrika, gegen den Einsatz von Napalm in Vietnam und gegen die Folter in der Türkei eingesetzt. Aber warum sollte man eigentlich gegen Apartheid, Folter usw. sein? Doch wohl nicht bloß deshalb, weil sie Erscheinungsformen von Kapitalismus, Imperialismus usw. wären. Das antiimperialistische, antikapitalistische usw. Engagement erwuchs, soweit erkennbar, daraus, daß das Zertreten von Menschen prinzipiell für furchtbar gehalten wurde und daß gesellschaftliche Verhältnisse, die es ermöglichen, als inhuman galten. Wenn es im Sozialismus grauenhafte Verbrechen geben konnte, wenn er auch in seiner abgemilderten Form seit Chruschtschow Unmündigkeit, Zensur und Verantwortungslosigkeit hervorbrachte, dann muß er zumindest radikal überdacht werden.
Die wesentliche, auch die bundesrepublikanische Linke hat die reale Geschichte der Sowjetunion immer wieder an jenen Stellen verdrängt, deren bloße Erwähnung den Ruch des Antikommunismus trug. Dafür gab es zwar verständliche Ursachen, die in die Zeiten des Kalten Krieges oder des Nationalsozialismus zurückreichen. Die Angst vor der Geschichte hat aber die Glaubwürdigkeit der Linken beschädigt.
Unter den Bedingungen der Glasnost ist die sowjetische Gesellschaft daran gegangen, sich ihrer eigenen Vergangenheit zu stellen. Vieles was unter westlichen Linken bisher als antkommunistische Greuelmärchen verdrängt wurde, kommt nun aus berufenem Munde. Das müßte irgendwann auch in der westlichen Linken ankommen, die bislang hart um den Weltpokal im Verdrängen mitgekämpft hat.
Die sowjetische Krise könnte auch im Westen heilsam und befreiend wirken. Das aber setzt voraus, daß sich die Linken auf die Basis ihres eigenen Engagements besinnen: Die Stiefel im Genick sind das Böse, egal wer sie anhat. Es gilt, sich höllisch vor Argumentationen vorzusehen, die sie rechtfertigen könnten. Gute Gründe gibt es auch für Illusionen, aber sogar bei ihnen sollte man genau hinsehen und zuhören. Das kann vor schnellen positiven und negativen Identifikationen ein wenig schützen.
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