: BEZIEHUNGSKISTE MORD
■ „Cirugia Plastica“ - Konzepte zeitgenössischer Kunst in Chile 1980-89
„Ich habe lange darüber nachgedacht, was ich auf diese Umschläge schreiben sollte. Ich fühle mich verpflichtet, darüber zu sprechen, was für Euch, Ihr Einwohner Berlins, wohl absolut nicht offensichtlich und doch vielleicht unumgänglich ist: die Herkunft der 80 gedruckten Gesichter meiner Sendung an diese Ausstellung“, steht auf einer der braunen großen Packtaschen, die Eugenio Dittborn nach Berlin geschickt hat. Die „mail-art“ erlaubt keine vorschnelle Identifizierung der Phantombilder: die große Entfernung Santiago-Berlin ist als zeitliche, räumliche und soziale Reise durch Dittborns „Geschichte des Gesichts 1-14“ nachzuvollziehen.
Kunst in Chile. Gibt es das, gibt es da nicht nur Folter, „Verschwinden“, Opposition und Plebiszit? Und wenn, dann Häusergemälde, Straßentheater, flüchtige Graffiti als Aufschrei gegen die Diktatur, lauter kleine vergängliche Guernica-Plagiate unzähliger politischer Künstler im Dienst der Opposition? Schnell wird die Dritte-Welt-Kunstschablone „kritisch“ abgefahren, aus Ignoranz oder Arroganz, am liebsten würde man den Lateinamerikanern ein paar deutsche Künstlergrößen als Entwicklungshelfer schicken. Wenn die NGBK jetzt den Versuch macht, mit 38 in Chile teilweise längst etablierten KünstlerInnen dieses Bild von der folkloristischen und politisch instrumentalisierten Wandmalerei, der „chileno contestario“, als einzigem künstlerischen Ausdrucksmittel zu revidieren, stellt sich immer noch die Frage nach dem Wie der Übertragung und der Vermittlung.
Die Konzeption der „Konzepte“ kann nicht daran vorbeigehen, wie diese Kunst hier angeschaut und funktionalisiert wird, in der Ex-Kulturhauptstadt, wo man -modifizierter Frontstadtideologie gemäß- gewohnt ist, Kultur als eine der gesellschaftlichen Wirklichkeit entrückte zeitlose Leerstelle je nach parteipolitischer Verwertbarkeit mit Sinn anzureichern. Wobei die Konjunktur politischer Themen den Ex - und Import der dann repräsentationswürdigen Kunstwaren bestimmt: Paris muß Moskau das Feld räumen, Chile hat keine Chancen gegenüber der DDR. Wird da nicht der ganze redlich bemühte Versuch der NGBK-Arbeitsgruppe ad absurdum geführt, aus der kleinen Kunstszene eines fernen Landes die „Avantgarde“ herauszufiltern und sie auch noch - wie es im Katalogvorwort getan wird - zum „Repräsentanten ihrer selbst“ zu erklären? (Eine kultur-politische dokumentarische Einführung in Form eines Multimedia-Videos scheiterte letztlich am vom Lottobeirat nicht bewilligten Geld, war aber auch innerhalb der Arbeitsgruppe umstritten.) Die Exotenschau schlägt um von der Landeskunde dilettantischer Stellwände im Hinterzimmer des patschuligeschwängerten Indioladens in den Gestus des weitgehend geschichts- und kontextlosen Vorzeigens, und diese Konzeption kann nicht nur finanziellen Nöten entsprungen sein: Nur das Neue scheint ausstellungswürdig, kein Werdegang, kein Vorläufer, kein Haßobjekt der politischen informellen Malerei wird zugemutet. Chiles letzter Schrei - ohne Grundierung wirkt das Gemälde allerdings modisch-blaß.
Doch lassen sich diese Ausstellungsprobleme nicht ohne die Widersprüche der chilenischen Kunstszene selbst verstehen. Vehement wird auf die Autonomie der Kunst gepocht, weil mit einer eindimensionalen Begriffswelt der durchrationalisierten einwegs-marxistischen Befreiungsideologie gebrochen werden muß: „CONTRA SIGNO CONTRA SIMBOLO“ steht in Neonlettern unter der vierteiligen Fotoperformance von Gonzalo Diaz, auf der er neben Wasserwaage, Duden und Senkblei, den geistigen Kolonisationswaffen des Abendlandes, mit Hammer, Sichel und geballten Fäusten posiert. Aber hinter ihm und der knallroten Fahne steht ein lächerlich anachronistisches klassizistisches Architekturmonstrum, Säulen und Pilaster sind verfallen und geben trotzdem einen würdig-komischen Rahmen ab für die Zeremonie der Auflehnung. Die großformatigen eng nebeneinander gehängten Tafelfotografien wirken wie ein erweitertes Triptychon: Kultische Dokumentation einer Pose der künstlerischen Selbstbehauptung, die sich von der Geschichte und ihren Symbolen distanziert und doch nicht von ihnen loskommt.
Das Pathos, vom Politwerk geradezu eingefordert, erscheint dem Gefühlshaushalt der Alten Welt aufdringlich und unangebracht. Aber was verpflichtet die KünstlerInnen, auf europäische Rezeptionsgewohnheiten Rücksicht zu nehmen? Trotzdem wirkt ein Großteil der Ausstellungsobjekte für die Reise nach Berlin ikonographisch hochgerüstet. Der europäische Blick entkommt nicht dem Dilemma, genau die „Zeichen und Symbole“ der chilenischen gesellschaftlichen Wirklichkeit, die er wiederzuerkennen glaubt, permanent aufzufinden. Denn fortwährend trifft er auf Spuren seiner eigenen Anwesenheit. Da ist der deutsche Anthropologe, der Gesichter von Yamana-, Selknam- und Alcalute-Stämmen in einem Band „Die Feuerländer-Indianer“ ordentlich erfaßte, und dessen Sammelwut sich Eugenio Dittborn in seiner „Geschichte des Gesichts 1-14“ zunutze macht. Da ist in Mario Soros Installation ein kleines gretel-bezopftes Mädchen aus einer chilenischen Zeitschrift, das freudig zum flugzeugbevölkerten Himmel aufblickt, einem amerikanisch -modernisierten Schlaraffenland, denn vollgefüllte Milchgläser fliegen ihm wie gebratene Tauben ins Maul. Da ist bei Carlos Leppe ein zerstückeltes zusammengelegtes Hakenkreuz mitten im Raum, vor einer monströs erscheinenden Wand aus haarübersäten Militärdecken, an geschraubten rostigen Baustäben als Standarten aufgehängt. Wie auf Schaschlikspießen sind numerierte Knochen daran aufgespießt, „Fräulein Annie lebt nicht mehr“ steht in altdeutscher schwarzer Schrift über den Fahnen. Und da sind schließlich Gonzalo Diaz - vierzehn identische schwarze gerahmte Grabplattenbilder nebst Leselampe und Wasserglas. Über das spanisch-deutsche Gedenken an Sigmund Freuds Traumforschung wird auf traumatische Verdrängungen unter der Diktatur verwiesen. Diaz‘ Installation „Lonquen 10 Jahre“ erinnert an die Entdeckung eines Massengrabs Verschleppter, den Schock, stets Geahntes zu wissen.
Gar nicht so pathetisch und deshalb umso irritierender ist der scheinbar leichtherzige und -sinnige Umgang mit dem alltäglichen Sterben, der banalen Folterbahre, dem bequemen rüschengefütterten Sarg, den überall installierten Bluttransfusionstaschen, der skurrilen Verkabelung der „chilenischen Volksgesundheit“ aus national-religiösem Fanatismus, Fernseher und Folter. Offensichtlich ist das sadistische Morden unter der Diktatur Pinochets wesentlich mehr als ein häßlicher Fleck im internationalen Ansehen Chiles. Die Gewalt hat die alltäglichen Verhältnisse derart durchsetzt, daß sie nicht mehr moralisch angreifbar ist. Mario Soro, Dozent an einer Hochschule in Santiago, unternimmt einen kühnen Flug durch die Welt der Metaphern, um die Folter als einen Teil eines strukturellen Abhängigkeitssystems zu verorten, eines religös vermittelten „Elektrizitätsnetzes“, das sich die Diktatur zunutze macht. Lüger de Luxe dagegen, eine Künstlergruppe, die heute die Unidad Popular als „Hippieprojekt“ verehrt, und schon wieder gegen die als „etabliert“ erfahrene Szene um Carlos Leppe, Eugenio Dittborn, Gonzalo Diaz und andere sogenannte „avancada„-Künstler revoltiert, spielt mit den Insignien des Todes ebenso wie mit anderen Klischees: Plastikrosen liegen unter dem Fotoroman einer Männlichkeitsmörderhure; Messer, Federn und Kanülen auf Monatsbinden im Kohlen-, Scherben oder Erdengrab künden von Sex and Crime, dem „Morden als Grundausstattung der zwischenmenschlichen Beziehungen Chiles“. (Lüger de Luxe).
Über all der mit großem Aufwand betriebenen „zeitgenössischen Kunst“ samt Performance des schwerbeleibten Aktionskünstlers Carlos Leppe (welcher, dem Rolls-Royce samt Blindenhund und geigespielendem Kompagnon entstiegen, verschiedenste Farbe mit Milch angerührt aus dem Schuh getrunken und effektvoll an sich heruntergegurgelt und nun dem muffigen Teer-Gedünste seiner Installation ein würziges Säuern der Milchreliquie am Ereignisort hinterlassen habend), über all dem Pomp setzen sich einige Werke ohne große Worte im Gedächtnis fest: Virginia Erraruriz bebaut streng geometrisch ein Gipsfeld mit heiß glühenden Birnen und zwei andere Kunstmonokulturen mit Neuner-Kachelgruppen und Tetraedern. Der Titel „Tres Plantaciones/Tre Situacione/Tre Juegos de la Agricultura a la Dictadura“ überläßt jedem/r selbst, die Serien um ihrer selbst willen oder ihrer land- und volkswirtschaftlichen Sinnzuweisung zu lieben. Francisca Nunez, die in den chilenischen Armenvierteln, den populaciones, lebt, bastelt aus Holz-, Leder- und Stoffabfällen grelle Figuren, die in ihrer Materialbeschränkung und ihren bewußten Verkürzungen von Proportionen und Perspektiven auf einmal ein Schlupfloch eröffnen und, ganz auf sich konzentriert, Nähe vermitteln. „Ich arbeite von Sonnenaufgang bis -untergang nur um meines Genusses willen. Ich bin das, was sehr wenige in meiner nächsten Umgebung werden wollen.“ (Nunez).
Dorothee Hackenberg
„Cirugia Plastica“ in der Staatlichen Kunsthalle, Budapester Str.42, bis 18.Oktober, Di-So 10-18, Mi 10-22 Uhr. Der Katolog kostet 18,- Mark. Im Rahmenprogramm Vorträge, am 4.10. „Verfassung, Perspektiven, politische Gefangene“, am 11.10. „Colonia Dignidad. Eine deutsche Kolonie in Chile“, jeweils 19 Uhr in der Kunsthalle.
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