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Tour mit Grenzen

■ Immer an der Wand lang, 180 Kilometer auf dem Rad an der Berliner Mauer

Günter Ermlich TOUR MIT GRENZEN

Immer an der

Wand lang,

180 Kilometer auf dem Rad an der Berliner Mauer

Samstag morgen halb neun, gähnende Leere am Potsdamer Platz. Sightseeing-Busse werden bald Touristenhorden zum obligatorischen Fünf-Minuten-Peepshow-Blick über die Mauer ankarren, zum unvermeidlichen Cheese-Fototermin vor buntbesprayter Kulisse. Wir haben Besseres vor.

Auf dem Fahrrad werden wir in einer Drei-Etappen-Fahrt West -Berlin umrunden. Immer an der Wand lang, gegen den Uhrzeigersinn, die Mauer rechts im Visier. Keine Ecke und Kante, keine Nische und Exklave auslassen. Wir werden das DDR-Grenzsicherungssystem „Ring um Berlin (West)“ von innen erfahren: 106 Kilometer Betonplattenwand, 66,5 Kilometer Metallgitterzaun, 302 Beobachtungstürme, 20 Bunker, 259 Hundelaufanlagen, 105,5 Kilometer Kraftfahrzeug-Sperrgräben, 127,5 Kilometer Kontakt- bzw. Signalzaun und 124,3 Kilometer Kolonnenweg. Gesamtlänge der Grenze 155 Kilometer.

Brandenburger Tor, Reichstag, schnell passiert. Rückstau am Grenzübergang Invalidenstraße. Hier ist die Zeit stehengeblieben. Ein ausgedienter Taxistand, das Schild von Pflanzen umrankt. Daneben ein verlassener achteckiger grüner Verschlag mit Sehschlitzen zur Feindobservation. Eine Hinweistafel macht dreisprachig auf die Grenze aufmerksam: „Achtung!“, „Dikkat!“, „Paznja!“.

Hochstand an der Bernauer Straße im Wedding. Freie Aussicht nach drüben. Aussichtslos, hier zu türmen. Diesseits einige große Holzkreuze zum Gedenken an erschossene Flüchtlinge. Jenseits zur Rechten ein Haus, in dem der „Klub der Volkssolidarität“ zu Hause sein soll; zur Linken überragen die vier Flutlichtmasten des Ostberliner Friedrich-Ludwig -Jahn-Sportparks um Längen den mickrigen Beobachtungsturm. Dazwischen das Mauerensemble in seiner ganzen Breite. Mauer, Kontrollstreifen aus frisch geharktem märkischen Sand, noch eine Mauer. In ihrem Schatten haben vor einem Bänkchen zwei blutjunge DDR-Grenzsoldaten Stellung bezogen. Obwohl keine 15 Meter entfernt, inspiziert uns der eine mit dem Fernglas. Letztes Gasthaus

vor der Grenze

Gleich neben dem traditionellen Domizil von Hertha BSC residiert der Kleingärtnerverein „Sandkrug e.V. von 1925“. Vor den Lauben, den Datschen des Westens, dominieren die Opel Rekords mit umhäkelter Klorolle auf der hinteren Ablage. „Letztes Gasthaus vor der Grenze“: Hier versammeln sich bei „Bärbel und Achim“ die Gesangsabteilung Hertha BSC, der Männerchor Edelweiß und der Bund deutscher Kriegsopfer, Körperbehinderter und Sozialrentner zur Kehlkopfabstimmung.

Lübars, der Bauernhof Berlins im nordöstlichen Zipfel, ist der Kontrapunkt zur Steinwüste des Märkischen Viertels. Hier können wir zum ersten Mal über den Zaun in die ländliche Weite schauen. Blankenfelde heißt das Dorf drüben mit Kirchturm, Kopfsteinpflaster und einsamem Trabi. Ein Sechsertrupp von schwerbewaffneten Soldaten der französischen Schutzmacht kommt im Gänsemarsch die Mauer entlang. Trotz der Hitze bewahren sie halbwegs die militärische Contenance.

Mauer-Kuriosa in Hermsdorf. Die Seeblickstraße hat eher Mauerblick. Und wo sonst an Gartenzäunen ein „Vorsicht! Bissiger Hund!“ oder allenfalls „Vorsicht! Beherzte Katze!“ der Abschreckung dient, soll in der Veltheimstraße ein Warnschild „Vorsicht! Selbstschußanlage nach 100 Metern“ potentielle Einbrecher fernhalten. Im Waldidyll der „Hubertusklause“, dem am nördlichsten gelegenen Ausflugslokal West-Berlins, versichert eine Wochenend -Pedaleuse der anderen: „Diese Ruhe hier draußen, herrlich!“ Vom Picknick gestärkt, stemmen wir die Fahrräder die Böschung auf die stillgelegte S-Bahntrasse; südwärts, immer parallel zu den Gleisen, aus denen nicht nur Unkraut, sondern auch schon mal eine Birke herauswächst.

Jenseits des Metallgitterzauns überholt uns lautstark ein patrouillierender Zweitakter-Jeep des VEB-Kombinats „Antifaschistischer Schutzwall“. Wieder runter vom Bahndamm. Die Mauern des Friedhofs Frohnau ecken an: „Ende des französischen Sektors“. Totenstille.

Eine kleine Brücke mit einer Westberliner Polizeistation in der Mitte überspannt die Autobahnzufahrt zum Grenzübergang Heiligensee, Richtung Hamburg. „Juhuu, juhuu!“ juchzt eine Stimme. Sich weit aus dem Wachtturm hinauslehnend, wild mit den Armen rudernd, macht ein Grenzer nachdrücklich auf sich aufmerksam. „Alles klar?“ schreit er zu uns rüber. „Alles klar, bei so einem schönen Wetter muß ja alles klar sein“, rufen wir verdattert-verlegen zurück.

Nach einem guten Stück auf der Uferpromenade überqueren wir die Havel mit der „Holüber III“ von Tegelort nach Spandau. Fahrzeit: zwei bis drei Minuten. Fahrpreise der Fähre laut Tarif: „1 Pkw mit Fahrer bis 1,2 Liter: 1,30 DM; 1 Person über 14 Jahre: 50 Pfennig; 1 Fahrrad: 90 Pfennig; 1 Pferd mit Reiter: 1,70 DM“. Im Gartenlokal „Schönblick“ am Fähranleger ist ausgelassene Wochenendstimmung. Die Drei -Mann-Combo in ihrer Musikmuschel versüßt den Gästen mit Glenn Millers In the Mood Kaffee und Kuchen. Oberhalb der Havel-Badestelle „Bürgerablage“ liegen zwei Oasen im märkischen Sand, die Laubenkolonien Fichtewiese und Erlengrund. Bis zum Gebietsaustausch im letzten Jahr waren sie DDR-Enklaven, nur durch ein Türchen in der Mauer und über einen asphaltierten Korridor zu erreichen. „Det Janze hat uns 90 Millionen jekostet, für so'n bißchen Sand“, macht ein Ausflügler verbittert seine Kosten-Nutzen-Rechnung auf. Ganz Spandau scheint an diesem lauen Abend vom Grillfieber besessen, denn über allen Lauben und Gärten liegt der Geruch von Bratwürstchen und Kassler Rippenspeer.

Höchste Zeit, Quartier zu beziehen. Das Hotel „Havelhaus“ in Kladow hat einen schönen Garten und einen eigenen Bootssteg. Für 70 Mark das Doppelzimmer gibt es durchgelegene Betten und Schwärme von Stechmücken.

„Schönes Wetter in Berlin. Tageshöchsttemperatur 30 Grad“, tönt eine heitere Quasselstrippe aus Schamonis Privatwelle 100,6. „Die Leute kommen zu uns“, erzählt uns beim Frühstück die Pächterin des Hotels, „weil wir die letzten auf der Liste des Verkehrsamtes sind.“ Eine Familie mit zwei Kindern aus Berlin-Wedding käme alle Jahre wieder, weil „das hier so billig ist und genauso schön wie am Starnberger See“. Wir verlassen Kladow und setzen mit der „MS Kohlhase“ in gut 15 Minuten auf die andere Seite der Havel über. „Freedom City“ Steinstücken

An der Glienicker Brücke, beliebte Übergabestelle von Spionen, ist die Kuppel der Potsdamer Nikolaikirche zum Greifen nah. Gleich neben dem Jagdschloß Glienicke reibt ein Mittfünfziger seinen Schmerbauch an der Mauer. Mit seinem Kameraauge linst er durch ein Loch, winkt aber enttäuscht ab: „Jibt nich viel zu gucken, is aber allet schön ordentlich jeeggt.“

Steinstücken, Ex-Exklave im äußersten südwestlichen Zipfel von West-Berlin, ist in Hufeisenform von Mauern umgeben. Nur durch eine korridorähnliche Zufahrtsstraße gelangen wir zum „Sommerfest Steinstücken“. Vor dem Eingang steht der ausgemusterte Mehrzweckhubschrauber UH1H „Freedom City Steinstücken“. Ein schwarzer US-Soldier, mit Stativ und Kamera bewaffnet, knipst drei Berliner Steppkes, die im Cockpit an Hebeln und Knöpfen hantieren. Zwei Hubschrauber -Rotorblätter, die senkrecht in den Himmel ragen, künden von der Ami-Luftbrücke: „Hier befand sich bis zum 31. Dezember 1976 der Hubschrauberlandeplatz der US-Schutzmacht. Er diente seit den Tagen des Mauerbaus im August 1961 der Sicherung der Freiheit in der ehemaligen Exklave Steinstücken.“

Raus aus Steinstücken, rein in Albrechts Teerofen, immer am Teltowkanal entlang. Am äußersten Ende dieses schmalen, langgezogenen Handtuchs haben sich 56 Berliner Dauercamper auf dem Asphalt des früheren Grenzkontrollpunkts Dreilinden niedergelassen. Gerade vier Stellplätze, immer schnell ausgebucht, blieben für auswärtige Wohnwagenliebhaber übrig, bedauert der Pächter des Campingplatzes. Über die stellenweise überwucherte Autobahntrasse hängt eine Wäscheleine mit Stoffwindeln. Ein dumpfer Lärmteppich läßt die nahe Transitautobahn hinterm Wald erahnen.

Der Ostpreußendamm wird unversehens zur Sackgasse. „Teltow. Kreis Potsdam 2,5 Kilometer“. Der Richtungspfeil weist geradewegs auf die Mauer. Ein Stück weiter ist ein großes Gebiet mit einem hohen Drahtzaun abgesperrt: „Life fire. Training area. US Army.“ Gleich daneben steht ein „Ende des amerikanischen Sektors. Angrenzendes Gebiet gehört zur DDR.“ Hinter der Mauer DDR-Grenzpräsenz gleich in zwei verschiedenen Wachtturm-Designs: ein moderner hellweißer, viereckiger und ein antiquierter aschgrauer, runder. In der Marienfelder Allee stoßen die Berliner Verkehrs-Betriebe, diesmal mit dem einstöckigen Bus der Linie 11, an die Grenze: Endstation. Hier im Wendekreis ist - wie überall für die notwendigen Geschäfte der Busfahrer - ein grünes mobiles Mietklo aufgestellt.

„Heimlich, still und leise, erst Gartenklau, dann Straßenbau.“ Protestparolen auf Stoffetzen und Pappschildern zieren die meisten Gartenzäune der 138 Parzellen der Kleingartenkolonie Birkholz. Die Laubenpieper gehen auf die Palme, weil die Autos und Laster ab 1994 durch ihr Terrain zum geplanten neuen Grenzübergang am Schichauweg in Marienfelde rollen sollen. Deshalb hat „Robin Wood“ zusammen mit der BUND-Jugend die Kolonie kurzerhand für „besetzt!“ erklärt und eine provisorische Ökolaube dort errichtet. „Vor sechs Wochen haben die von drüben hier unsere schöne alte Mauer abgerissen“, erzählt ein älterer Laubenpieper.

Es klingt wie ein spätes Liebesbekenntnis, gar nicht nach Klagemauer. So schön grün sei sie bewachsen gewesen, kaum mehr zu sehen. An ihre Stelle haben DDR-Bautrupps einen hohen Metallgitterzaun gesetzt. Schlupflöcher erlauben unten den beidseitigen Karnickelwechsel. „So wat wie Sie, nee, dat ham wa nur seltener“, begrüßt uns die Chefin des Hotels „An der Gropiusstadt“, während wir die Fahrräder anketten. Blond gefärbte Haare, mit einem Jogging-Dreß leicht beschürzt, Typ Berliner Kodderschnauze, die kein Blatt vor den Mund nimmt. 95 Prozent seien Stammgäste. „Unser Mann aus Toronto will partout immer dat Zimmer Nummer 10.“ Öfter kämen verhinderte Passagiere vom Ostberliner Flughafen Schönefeld oder zurückgewiesene Grenzgänger. Bei den Russen kriegt die Hotelchefin leicht glänzende Augen; bei den DDRlern fällt bei ihr gleich die Klappe: „Det sind die allerschlimmsten: 'Ein Bier kostet hier vier Mark, bei uns aber nur 80 Pfennig‘, vergleichen die immer nur die Preise. Aber dis is ja so ne Plärre, die kann man nur auf'n Müll schütten.“

Dritter Tag. Letzte Etappe. Wieder dudelt Schamonis Radio 100,6 zum Frühstücksbuffet: Howard Carpendale begrüßt uns mit einem fröhlichen Hello again. Anne-Marie, die Filipina, serviert, während ihre Chefin die DDRler noch immer auf dem Kieker hat: „Die packen sich vom Buffet sogar noch Brötchen ein, nich det ich davon arm würde, aber so'ne Einstellungsmentalität ham die!“ Gesamtdeutsche Schäferhunde

Draußen ist eine Bullenhitze, und Neukölln zieht sich unendlich in die Mauerlänge. An der Buckower Feldmark rankt Efeu an der Betonwand. Daneben, in einem Neubau, verwelkt die Kneipe „Mauerblümchen“: geschlossen. Der Verein für Schäferhunde, Ortsgruppe Buckow dressiert seine Vierbeiner auf einem Übungsplatz in abgeschiedener Mauerlage. Auf der anderen Seite, am Mauerknick unterhalb des Trümmerberges Waßmanndorfer Höhe, sind die DDR-Schäferhunde bereits bestens abgerichtet und scharf auf Republikflüchter. Weit und breit keine Wachttürme, dafür alle hundert Meter eine Hundehütte und lange käfigartige Korridore, in denen die tierischen Grenzwächter an langer Leine Patrouille laufen.

Über Kilometer radeln wir am Teltowkanal, erst durch Industriegebiet, dann durch Laubenkolonien. Hinter dem Kanal eine schmale Uferböschung, dann die Mauer; alle Brücken sind vermauert, verbrettert, vergittert. An der Späthstraßenbrücke steht ein übermannshohes Holzkreuz: „Werner Kühl, 22, am 24. Juli 1971 bei dem Versuch, aus unbekannten Gründen von Britz nach Ost-Berlin zu gelangen, erschossen.“

Die Heidelberger Straße, mitten im Neuköllner Kiez, ist verkehrsberuhigt. Die Mauer hat es möglich gemacht. Keine Autos, nur Fußgänger und Fahrradfahrer kommen durch. Zwei aufgeschlitzte Ledersessel stehen in der Gegend. Vor dem „Elsentreff“ sitzen drei Männer an einem Kneipentisch auf der Straße, die Mauer im Rücken.

Am dekorativsten sieht die Mauer in Kreuzberg aus. Hier gibt es die kreativsten Poeten und die phantasievollsten Maler. Kein Quadratzentimeter Betonfläche ist frei. „Königsberg i.Pr. 590 km, Danzig 470 km, Breslau 330 km, Stettin 147 km“. Großdeutsch, schwarz auf gelb, steht das Verkehrsschild auf dem Hof des Springer-Hochhauses. „Kommunistenschweine!“ brüllt ein Besoffener immer wieder auf der Aussichtsplattform am Checkpoint Charlie und reißt dabei die Faust gen Osten hoch. Verständnislos gucken ihn zwei kurzgeschorene Amis von der Seite an. „Geöffnet. Nach Osten. Nach Westen nach Vereinbarung.“ Die „Wall Street Gallery“, dreieinhalb Meter vom steinernen Blickfang entfernt, gibt sich weltoffen. „Spieglein, Spieglein an der Wand“: Viele kleine Glassplitter sind an die Mauer geklebt, zu einem Ensemble zusammengepuzzelt. Zwei junge Polinnen werden von ihren Männern fürs Foto vor die Mauerreflektion in Pose gesetzt. Bis auf die Innereien ausgeschlachtet liegen zwei automobile Wracks platt auf dem Bürgersteig. Die „Military Police“, den Union Jack auf dem Heck ihres VW -Busses, fährt kontrollierend ihre Sektorengrenze lang. Der Potsdamer Platz, Start und Ziel unserer Mauerreise von Freiheit und Abenteuer, liegt hinter der nächsten Mauerbiegung brach. Die Souvenirläden haben schon dichtgemacht; der Aussichtsturm ist menschenleer. Im breiten Mauerstreifen hoppeln unzählige Kaninchen herum. Zwei Grenzsoldaten, Fahrer und Sozius, knattern mit ihrem Moped über die asphaltierte Piste von Wachtturm zu Wachtturm.

Literaturhinweis: „Kompass Radwanderführer Berlin (West)“, Deutscher Wanderverlag, Stuttgart 1989

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