DAS WILDE LEBEN

■ Greger Hansen im Theater zum Westlichen Stadthirschen

„Recken, Runen, Riesenweiber“ heißt das Stück, und beim Aussprechen rollt dreimal das R, ganz hinten in der Kehle, wo sich dereinst aus Grunzen Sprache entwickelt haben mag. Irgendwo dazwischen, zwischen Ursuppe, Eiweiß, das sich in Richtung Mensch zu organisieren beginnt, und gesicherter Geschichte liegt die Edda. Edda? - Für Laien in der Tiefe der nordischen Geschichtsgrube: Die Edda, das ist Göttermythos für blaue Augen, direkt aus dem Wikingergedächtnis; ein nebelumwalltes Anti-Athen, Walhalla statt Olymp, mit Namen wie Ledersohle; Odin, Thor und das wilde Leben in Germanenheim. Eine Think-Stätte über das Werden & Wollen auf der Welt, bevor sich die Menschen auf der Nordhalbkugel alleine gegen die Elemente schultern und stemmen mußten.

Aus diesem Irgendwann der Geschichte erstattet Bericht Greger Hansen. Als Spiel- und Erzählmann bekam er die Nachrichten aus der Edda noch auf du ins Ohr geflüstert, stand am Tresen, als Thor erzählte, wie er einmal seinen Hammer verlor. Ja, das war so...

Heute, ein paar Jahrhunderte nach diesem Abend mit Gott, ist der Ohrenzeuge ein wenig derangiert. Die Hose ist außer Form, auch das Muscle-Shirt sah schon beßre Zeiten, der Trenchcoat war nicht nur einmal in der DDR -Altkleidersammlung. Nur die Schuhe, alt auch sie, dennoch von stabil-tragfähigem Aussehen. Kein Wunder, wer von soweit herkommt, muß stabiles Fußwerk haben, zum Wandern und Fallschirmspringen aus der dünnen Luft des mythischen Beginns zwischen Helgo- und Island, nunmehr eingetroffen im Theater zum Westlichen Stadthirschen. Berlin, West, 1989. Und das erste, was er tut, ist, seine Stiefel auszuziehen und an den Bühnenrand zu werfen: angekommen, loserzählt.

Am Anfang liegt er noch auf Stroh, der besten vorzeitlichen Matratze, hinter einem weißen Vorhang, der recht surreal in der Landschaft der schwarzgetünchten Fabriketage steht, deren Säulen wiederum sich zum düsteren Pantheon aufzubauen scheinen. An Requisite, Bühnenbild sonst nur noch: ein halbes Geweih, nachlässig angebracht; eine Trommel, ein Einmachtopf aus Emaille, um daraus schwer animalisch -archaisch Wasser zu schlürfen - wenn es den Erzähler dürstet zwischen den Geschichten. So geht es schön elektrifiziert-steinzeitlich zu, und das pünktlich halbstündige Fiepen einer Quarzuhr am Handgelenk eines Zuschauers gemahnt an die motorisierten Barbaren da draußen, in der Zivilisation des Otto-Motors.

Es beginnt: Hansen steckt seine Hand durch den Vorhang, schiebt ihn etwas beiseite, heraus kommt ein abgemagertes Gesicht, knochig, tief liegende Augen, rot unterlaufen und verschattet. Spielleute sind Hungerleider, auch in ihrer modernen Fassung im Off-Theater. Dann tritt seine hagere Gestalt hervor und beginnt - mit der absatzsteigernden Geste der Einweihung in Geheimnisse - Neuigkeiten aus der Vergangenheit zu erzählen. Zum Beispiel von Baldurs Tod und Lokis Bestrafung - wozu man erst mal wissen muß, wer Baldur und Loki waren. Dazu werden sie sogleich in der Götterfamilie verortet: denn Göttergeschichten sind Familiengeschichten, heillose Verschränkungen von verwandt, verschwägert, unehelich verschwistert und frühzeitig verwitwet. So stellt sich die zur Schrift gekommene Urhorde den eigenen Beginn vor: als eine außer Rand und Band geratene Großfamilie (und die meisten Menschen heutzutage die Politik), deren boshafteste Elemente die abgefallenen Mitglieder markieren. Baldur beispielsweise - der Name kann nicht genannt sein ohne „der Sohn von Odin, dem Teutonen -zeus, und seiner Anvertrauten, der beste Mensch, der jemals auf Erden wandelte“. Und diese Heraufzählung der verwandtschaftlichen Schnürfäden klingt, wie wenn man nach Hause kommt, auf Neuigkeiten gefaßt ist und zu hören bekommt, daß Müllers Hertha ihre Lisa jetzt ihr drittes Kind bekommt, diesmal aber von Karstens sein Harm, der sich aber noch nicht von Beckers Gisela hat scheiden lassen, obwohl diese... usw. So ähnlich geht es bei den Edda-Göttern zu, nur daß deren Mißgeschick als Erbsünde und Erdbeben auf die Welt zurückfällt.

Hansen erzählt die Geschichten mehr, als daß er sie in Schauspiel umsetzt, wird so nicht zum hurtigen Verwandlungskünstler, der in Weltrekordzeit von Schneeweißchen zu Rosarot wechselt. Und in dieser dosierten Zurückhaltung der Mittel gewinnt er an Ausdruck, den er braucht, um die Geschichten in ihrer Balance zu halten. In einer schwierigen Gratwanderung zwischen dem Abgrund des heiligen Ernstes vor Texten aus den Grundtiefen der Kultur und ihrer heroischen Lächerlichkeit, mit der sie heute bei uns ankommen. Er rettet etwas von der Edda, wenn die Weltenerklärung mit dem handwerkklappernden Brimborium aus Helden und Schwertern aufgeht in einem schiefen Lästermaul, doch die großen Themen Liebe, Haß, Macht, Geld, Treue, Verrat bleiben, was sie sind: Grund genug, sich gegenseitig die Birne abzuhacken.

Am Ende der Veranstaltung werden wieder die Schuhe geschnürt, und es kann abgehen ins nächste Jahrtausend. Die Zuschauer haben nix gelernt, aber von der Bürde der Zeit sind ihnen genehme zwei Stunden genommen.

Höttges

„Recken, Runen, Riesenweiber“, bis 29. Oktober, Do-So, 20.30 Uhr, im Theater zum Westlichen Stadthirschen, Kreuzbergstraße 37/38.