: Monsieur Hires Ende als Schauspiel
■ Über Patrice Lecontes „Die Verlobung des Monsieur Hire“
Es wird dunkel, aber Monsieur Hire macht kein Licht. Er legt eine Platte auf, ein weiches, elegisches Klavierquartett, fast wie von Brahms (die Musik ist von Michael Nyman, der auch für Greenaway arbeitet), die Mollmelodie öffnet sich mit Schlenker und Quartvorhalt, zögert, um neu einzusetzen, noch inniger, und nochmal und nochmal - das Stück findet kein Ende. Monsieur Hire stellt sich ans Fenster, aber er wirft keinen Blick ins Leere. Die Kamera fährt zurück. Die Wohnung gegenüber ist hell erleuchtet. Alice zieht sich um, oder läßt sich von ihrem Verlobten - einem kleinen Gangster
-streicheln, oder sie bügelt. Irgendwann entdeckt sie Monsieur Hires Blick. Sie erschrickt.
Monsieur Hire ist nicht beliebt bei den Leuten. Dazu ist er, der stets in korrektes Schwarz gekleidete Schneider, der mehr aussieht wie ein Bestattungsunternehmer, allzu offensichtlich allein, und allzu scharf spiegelt ihnen sein kahles, blasses, regloses und glänzendes Gesicht die Angst vor diesem Alleinsein zurück. Natürlich ist auch die Kälte, die ihn zu umgeben scheint, nur die der Umgebung. Ein Grund mehr, ihn nicht zu mögen. Auf einem Bahndamm in der Nähe ist die Leiche eines 22jährigen Mädchens gefunden worden. Monsieur Hire ist ein idealer Mordverdächtiger.
Alice aber erwidert seinen Blick. Als er einmal gerade seine Wohnung betreten will, schüttet sie scheinbar aus Versehen eine Tüte praller roter Tomaten vor ihm aus. So lernen sie sich kennen. Sie gehen essen, er zeigt ihr die Stadt, er blüht auf. Er sagt ihr, daß er weiß, wer das Mädchen ermordet hat: Alices Verlobter. Sie sagt, er hätte es nicht absichtlich getan. Monsieur Hire möchte mit Alice fortziehen, damit sie nicht als Komplizin in den Mordfall verwickelt wird.
Der Film, der auf einem Roman von Georges Simenon beruht, ist in Cinemascope gedreht. Oft geht die Kamera sehr nahe an die Gesichter. Die Bilder, der Rhythmus, der Ton, die Farben - kühle Braun- und Blauschattierungen -, das Licht sind perfekt. Der Film könnte der Gefahr der Ästhetisierung und damit des Einverständnisses in den Lauf der Dinge erliegen. Patrice Leconte wußte wohl, daß Michel Blanc und Sandrine Bonnaire die Balance halten würden. Sie rauhen die Oberfläche auf durch ein Bild des Unwillkürlichen, das sich allem Arrangement widersetzt. Sie können etwas, was für die allermeisten Schauspieler undenkbar ist: Darstellen, wie sich eine innere Regung in einem Gesicht gerade nicht darstellt, wie sich das Gesicht verschließt und sich die Regung nur durch eine physiognomisch nicht erklärbare Verschleierung des Blicks, ein unmerkliches Herabziehen der Mundwinkel allein uns sichtbar verrät.
„Es ist nicht schlimm“, sagt Monsieur Hire am Schluß zu Alice. Sie hat ihm den Mord angehängt. Vor dem Zugriff des Kommissars flüchtet er aufs Dach, von dem er nur noch fallen kann. Es ist vielleicht nicht schlimm, aber - was der Film nicht mehr zeigt - für die Beteiligten eine Katastrophe. Für Alice, die schuld ist und die nicht allein Monsieur Hire verraten hat, sondern vor allem ihre Zuneigung zu ihm. Für ihren Verlobten, den kleinen Gangster - Monsieur Hire war Zeuge des Mords und hat das entscheidende Beweisstück wohlweislich deponiert. Für den Kommissar, der das Beweisstück in einem Bahnhofsschließfach findet und sehen muß, daß er dem Falschen zugesetzt hat. Nur für die graue Masse der „Leute“ nicht, die Monsieur Hires Ende als Schauspiel betrachten und gewissermaßen höflich zurückweichen, um ihm die Absturzstelle freizuräumen, als er die Dachrinne losläßt. Monsieur Hire ist traurig wie die Welt.
Thierry Chervel
Patrice Leconte: Die Verlobung des Monsieur Hire, nach einem Roman von Georges Simenon, mit Sandrine Bonnaire, Michel Blanc, u.a., ca. 80 Min.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen