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Union fällt Genscher in den Rücken

■ Außenminister soll nach Rückkehr aus New York zur Rede gestellt werden / Revanchisten möchten die Grenzziehung zu Polen offen halten / Genscher besteht aber auf Einhaltung aller Ostverträge / Ein Stück Eiserner Vorhang für den Schreibtisch

Berlin (dpa/ap/taz) - Während Außenminister Genscher sich am Rande der UN-Vollversammlung in Einzelgesprächen mit seinem sowjetischen und DDR-Kollegen um eine weitere Bereinigung der Revanchismus-Vorwürfe bemühte, kartete die CDU in Bonn gleich in der anderen Richtung nach. Von heftigen Irritationen in Kreisen der CDU/CSU-Fraktion ist die Rede. Die von Genscher postulierte dauerhafte Gültigkeit der polnischen Westgrenze ist nach Auffassung der Stahlhelmer nach wie vor ein Unding. Wie zur Bestätigung der von Schewardnadse erhobenen Vorwürfe tönte der deutschlandpolitische Sprecher der Union, Eduard Lintner gestern erneut, Ausgangspunkt für künftige Friedensverhandlungen (bei denen eine Grenzziehung vereinbart werden soll) sei „nach wie vor das Deutsche Reich in den Grenzen von 1937“. Lintner geht davon aus, daß „Genscher nach seiner Rückkehr um eine Klärung seines Standpunktes in dieser Frage gebeten werde“. Die Union werde jedenfalls an der völkerrechtlichen Grundlage nicht rütteln lassen. Auch der Bund der Vertriebenen sah sich genötigt, daran zu erinnern, daß Genschers Rede vor der UNO in klarem Dissens zu Kohls Regierungserklärung vom 1. September stehe, wo der Kanzler bewußt auf jede Wertung des Warschauer Vertrages verzichtet habe. Demgegenüber hatte Genscher vor der UNO versichert, alle bestehenden Verträge seien selbstverständlich bindend für die Bonner Politik. Der Verweis auf Kohl ist um so pikanter, als aus Kreisen der bundesdeutschen Delegation in New York verlautete, Schewardnadse habe seine Anspielung tatsächlich auf die Rede Kohls vor dem Bundesparteitag in Bremen bezogen - bei dem Gespräch mit Genscher hätte Schewardnadse auch noch einmal an Kohls Goebbels-Vergleich erinnert. Trotzdem versicherten Genscher und seine Mannen im Anschluß, alle Mißverständnisse zwischen der Bundesregierung und der UdSSR seien nunmehr ausgeräumt, Schewardnase habe ihn sogar zu einem Treffen im Dezember in Moskau eingeladen.

Noch distanzierter als der Small talk mit dem Russen soll dem Vernehmen nach das deutsch-deutsche Abendessen zwischen Genscher und DDR-Außenminister Fischer verlaufen sein. Angeblich ging es hauptsächlich um die Botschaftsbesetzer in Prag und Warschau, über die „sehr ernsthaft“ gesprochen worden sei. Ergebnis: kein Kommentar im Interesse der Betroffenen. Ob Fischer sich Genschers Reformvorschläge zu Herzen genommen hat, wollten die beiden Minister auch lieber für sich behalten.

Richtig wohl konnte sich Genscher offenbar nur bei den Ungarn fühlen. Deren Außenminister überreichte ihm ein Stück Stacheldraht, für Genscher das bewegendste Souvenier seiner Laufbahn. Außer Bush ist er damit der zweite Westler, der sich ein Stück Eisernen Vorhang auf den Schreibtisch stellen kann.

JG

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