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ETRE-OU-NE-PAS-ETRE

■ Patrice Chereaus „Hamlet“ zu Gast bei den Berliner Festwochen

Wie eine Königin stand sie da, beleidigt, daß ihr nichtnummerierter Platz nach der Pause von einem anderen eingenommen worden war und ihr ein leerer Platz am Rand übrigblieb. Die Reihe mochte sie jedoch nicht wechseln, stand mit hoch erhobenem Haupt, bis das Licht ausging, und setzte sich dann doch, still und stolz, auf den schlechten Platz in der Deutschlandhalle.

Vielleicht war ihr der „Hamlet“ schon zu Kopf gestiegen, denn auch bei Shakespeare geht es um Plätze und Platzhalter. Der Geist des Vaters, real wie aus einem Mantel- und Degenfilm, prescht dreimal im Harnisch auf einem feurigen schwarzen Pferd auf die Bretterbühne, um Hamlet zu eröffnen, die Heirat seiner Mutter mit dem Onkel sei auf den Mord an seinem Vater gegründet. Rache am Onkel tue deshalb not. Aber Hamlet zögert, er will es genau wissen, läßt die Bluttat als Theaterstück vorspielen, um die Reaktion des Mörders zu beobachten, und zögert noch, als es erwiesen ist. Lieber appelliert er an die schöne Mutter, nicht zum Vater ins Bettchen zu kriechen, und umarmt sie verführerisch. An der Leidenschaft der Mutter scheint nur eines falsch, die Richtung. Nicht als Rächer der besudelten Familienehre tritt Hamlet auf, sondern als Rivale, und wenn er am Ende in einem Stellvertreterdegengefecht den Rivalen besiegt, fällt ihm die Mutter zu Füßen, irrtümlich vergiftet. Ihm bleibt nichts übrig, als seinem eigenen Tod nachzuhelfen, denn wahre Liebespaare sterben immer zusammen. Ophelia, die ihm eigentlich Zugedachte, frisch begraben, ohne daß Hamlet sich mit dazugelegt hätte - er hatte noch ein paar Dinge zu erledigen -, war wohl nie viel mehr als eine irreale Projektion, eine Wasserleiche. So zumindest läßt es Chereau vermuten. Sein am Theatre des Amandiers in Nanterre entstandenes und eben von Yves Bonnefoy neu ins Französische übersetzter „Hamlet“ ist weniger eine Studie über den Konflikt zwischen Wollen und Tun, Moral und individueller Entscheidung, als ein erotisches Märchen.

Die grausamste Version des elisabethanischen Ödipus -Komplexes habe ich in der unvergessen-schlechten „Hamlet„ -Inszenierung des Wiener Burgtheaters gesehen. Als die Königin ihrem Hamlet alias Brandauer von einer Riesen-Vagina -Zinne herunterwinkte. In Chereaus „Hamlet“ gibt es nichts von gründelnder metaphysischer Bedeutung. Am Anfang jeder Szene rasen - je nach Szenenanweisung - Höflinge, Königspaar und erst recht Hamlet wie vom Teufel verfolgt auf die Bühne, unterstützt von einem elektronischen Donnerschlag aus der Samplingskiste von Zappa bis Floyd. Es klingt, als knirsche der Bühnenmeister mit den Scharnieren, um die beliebig versenkbaren Elemente der beweglichen Holzbühne zu einem neuen Relief einzurasten. Von oben gesehen wirken die hellen und dunklen Einsätze wie ein umgestürzter Tempel, aber wenn sie nach oben oder unten ausgefahren werden, ersetzen sie Kulisse und Mobiliar, dienen als Stuhl und Grab, als Wandelgang für die wahnsinnige Ophelia und als Insel für das von Degenspitzen bedrohte, isolierte Königspaar. Sonst gibt es nichts Überflüssiges auf der Bühne. Selten werden Requisiten eingesetzt: Totenblumen, die die Königin nach dem Mord verstreut (im Schauspiel, das der echten Königin vorgeführt wird) oder die sie Ophelia ins Grab hinunterwirft; Schaufel, Bretter, Gebeine und Bierflasche aus der Arbeitswelt des Totengräbers. So findet der Dialog, den Hamlet und der Totengräber über die Banalität des Seins und Nicht-Seins führen, in angemessener Beiläufigkeit statt. Wenn der Totengräber ein paar Knochen auf die Bühne wirft, schafft er einen Friedhof, wenn Hamlet sich die Jacke über den Kopf zieht und den Totenkopf aufsetzt, wird aus Nichts Theater.

Das Theater im Theater gehört zu Shakespeares Lieblingstopoi. So läßt er Hamlet die Schauspieler instruieren, das seelenlose, routinierte Deklamieren zu vermeiden, mit dem „die Ohren des Parterres vollgedröhnt werden, das ohnehin sehr häufig nichts außer unerklärlichen Pantomimen und Lärm zu schätzen weiß“. (Aus der deutschen Übersetzung der französischen Version.) Soviel auch hier über ein (immer noch) ignorantes Publikum (das großen Namen hinterherhetzt?) gesagt wird - Shakespeare wußte zugleich, daß „die Leidenschaft“ des Schauspielers mit einer „Mäßigung“ verbunden sein muß, soll Theater nicht als bloße Schauspielerei vorbeirauschen, sondern einen „Abriß, eine kurze Chronik der Epoche geben“. An Knappheit und an Leidenschaft fehlt es keinem der Chereauschen Protagonisten, aber beides verbraucht sich in der Wiederholung. Hamlet im punkigen Wams stürmt auf die Bühne, beim ersten Mal überzeugend, beim zweiten Mal dramatisch-routiniert, beim dritten Mal scheint es sein Markenzeichen geworden zu sein. Doch Shakespeares Stürmer und Dränger hat auch stille Stunden, so wenn er - als wäre es ein Drama von heute - den Verlust der Authentizität des eigenen Leidens beklagt, an der Echtheit seines Schmerzes zweifelt, der von jedem seiner fahrenden Schauspieler übertroffen wird, oder wenn er den berühmten „Sein oder Nicht-Sein„-Monolog sprechen soll. „Etre-ou-ne-pas-etre c'est la question“, das unterscheidet sich im Tonfall nicht von den chronisch dramatischen Tonlagen zuvor. Vielleicht kann in dieser flüssig verbundenen Sprache nicht grüblerisch abgewogen werden, vielleicht erscheint Hamlet heute als ein zu widersprüchlicher Mensch, als daß sich diese Alternative so klar stellen würde. Seine permanente abgegriffene Aufgewühltheit kommt jedenfalls dem gegenwärtigen Lebensgefühl sehr nahe, auch, daß er fast gleichgültig dem eigenen Untergang entgegensteuert. Lieblos versetzt er dem Gegner ein paar Degenhiebe im Duell, läßt sich verwunden, stülpt ordentlich den geleerten Giftbecher um. Klein und dünn schaut er am Ende aus, von der Prinzenkluft ins graue Röckchen geschlüpft.

Chereau und seine Helfer spielen mit den Epochen. Die Gesandten Rosenkranz und Güldenstern sind pluderbehoste und auftupierte Garderobenständer des 16. Jahrhunderts, das Königspaar kommt, nach dem Zeitgeschmack des 20. Jahrhunderts, von der Stange (wallende Samtgewänder, naturgelockte rote Mähne) und das fahrende Schauspielervolk in Straßenanzügen aus der Fellini-Welt. Chereau plündert die zeitgenössischen Schmachtfetzen, spult eine Prince-Jammer -Ballade zur Pantomime vor der Hofgesellschaft ab, so daß die simulierte Königin wie Tina Turner im Sehnsuchtskirren wankt, oder unterlegt lange Dialoge mit einem synthetischen Katastrophenostinato. Dabei wirkt das Szenario gespenstisch genug: Gleich hinter der Baukastenbühne fängt das Nichts an, darüber das verdunkelte Rund leerer Plätze auf der gegenüberliegenden Tribüne der Deutschlandhalle. Und über allem ein aus dem Schwarz aufblitzender monströser Apparat zur Erzeugung von Illusionen. Erstaunlicherweise bleiben die Schauspieler die meiste Zeit davon verschont. Altmodisch beharrlich erzählen sie vier Stunden lang eine Geschichte voller Schreckensmeldungen, aber auch voller Ironie, mit all den Versatzstücken der modernen Fabelwelt aus Film, Funk, Fernsehen und Shakespeare.

Dorothee Hackenberg

Theatre des Amandiers mit „Hamlet“ in der Übersetzung von Yves Bonnefoy. Inszenierung: Patrice Chereau, Bühne: Richard Peduzzi, Kostüme: Jaques Schmidt, Licht: Daniel Delannoy, Ton: Philippe Cachia. Mit Gerard Desarthe, Vladimir Yordanoff, Nada Strancar, Claude Evrarad, Marianne Denicourt und andere. Das Gastspiel wird heute und morgen, in der Deutschlandhalle, 18.30 Uhr, wiederholt, Aufführungen in französischer Sprache, die deutsche Übersetzung ist im Programm vollständig abgedruckt.

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