: Pilger auf dem Jakobsweg
■ Nach Santiago de Compostela soll man wandern
Erich Rathfelder PILGER AUF DEM JAKOBSWEG
Nach Santiago de Compostela soll man wandern
Eigentlich müßte es für jeden Menschen offensichtlich sein: nur die Fortbewegung zu Fuß ist für unsere Spezies angemessen. Nur beim Wandern sind alle fünf Sinne beisammen und in Aktion. Sehen und Riechen, Schmecken, Hören und Fühlen bilden eine Einheit und erschließen ein Naturerlebnis, das bei anderen Fortbewegungsarten nicht zu erfahren ist. Selbst wer mit dem Fahrrad unterwegs ist, verzichtet auf einen Teil der Erlebnismöglichkeit, obwohl natürlich Radler solche Gedanken weit von sich weisen. Doch abgesehen davon, daß die Fahrradfahrer auf der Straße zu bleiben haben und selten dem motorisierten Verkehr ausweichen können, entgeht ihnen manches, das den Reiz des Wanderns ausmacht: in eine Landschaft einzutauchen, die Erde und das Gestein, die Pflanzen und Tiere, die Menschen, Dörfer und Städte so wahrzunehmen, daß sich etwas Unverwechselbares, nur dort Existierendes offenbart. Das Erlebnis wird um so eindrücklicher, je großartiger die Landschaft ist und je länger gewandert wird. Nach drei, vier Tagen beginnt der aus der profanen Alltäglichkeit mitgeschleppte Mist abzufallen. Mit der körperlichen Anstrengung stellen sich auch die in der Stadt verkümmerten Sinne um. Und nach einigen Wochen wird die „Zivilisation“, der natürlich auch kein Wanderer entrinnen kann, als das empfunden, was sie ist: als Urgrund allen Stresses. Schon das Überqueren einer Hauptverkehrsstraße wird zur fast unerträglichen Last. Lärm, Dreck und Abgase sind aus dieser Perspektive nichts anderes als blanke, brutale Gewalt.
Wanderer behaupten, nicht nur gegenüber der Natur empfänglich und sensibel zu sein. Auch gegenüber sich selbst und anderen Menschen halten sie sich für aufgeschlossener. Vielleicht ist es diese spirituelle Komponente, diese Möglichkeit, in sich zu gehen, die das Fernwandern über die sportliche, körperliche Seite hinaus wieder so attraktiv gemacht hat. Auch wenn die heutigen Wanderer in den seltensten Fällen Ideologien wie die der Wandervögel zu Beginn unseres Jahrhunderts auf ihren Weg mitschleppen oder irgendeiner anderen Tradition verpflichtet sind, so tendieren sie bei aller - auch gegenseitigen - Absonderung doch zu einem Ingroupverhalten. Wer den gleichen Weg gegangen ist, kennt die Strapazen auch für den anderen. Durch die Respektierung der Leistung heben sie sich gegenseitig empor und blicken auf jene herab, die mit ihren Autos und Motorrädern, mit ihren Fahrrädern und Autobussen auch meinen, in derselben Gegend zu sein.
Noch stärker werden die Bande, wenn alle dem gleichen Ziel zustreben. Im ausgedehnten europäischen Fernwandernetz kommt dies nicht allzu häufig vor. Auf dem uralten Pilgerpfad nach Santiago de Compostela jedoch, der von verschiedenen Orten Frankreichs (Paris, Vezelay, Le Puy, Arles) aus nach Überquerung der Pyrenäen über die herrlichen Landschaften Navarras, den heißen Ebenen von Castilla-Leon, die Ausläufer des Kantabrischen Gebirges ins grüne Galicien und in die heiligste aller katholischen Städte führt, verbindet alle Wanderer ein gemeinsamer Wunsch: nach achtzig, dreißig oder auch nur zehn anstrengenden Tagen, je nachdem, wo der Wanderer in den Pfad eingetreten ist, endlich vor dem Portal der Kathedrale von Santiago zu stehen. Für den normalen Reisenden mag dieses Portal ein kunsthistorischer Schatz sein, der neben den anderen romanischen und gotischen Kathedralen und Stadtkernen Nordspaniens pflichtschuldig abgehakt wird, für die Wanderer ist es der Endpunkt einer Reise, auf den sich schon lange vorher das Denken konzentrierte. Reise in die Vergangenheit
Auch wer das Wandern aus rein körperlichen, sportlichen Motiven auf diesem Pilgerpfad begonnen hat, kann sich dessen Atmosphäre schwerlich entziehen. Denn täglich wird der Wanderer auf romanische Kirchen aus dem 9., 10. oder 11. Jahrhundert stoßen, wird an den Mauerresten vieler Hospize vorbeigehen, wird Flußläufe auf intakten römischen Brücken überqueren, in mittelalterlichen Klöstern übernachten und auf den Pfaden unzählige Kreuze sehen, die an dort gestorbene Pilger erinnern. Die lange Geschichte des Pfades und die damit verbundene Stimmung teilt sich unwillkürlich mit. Die Erinnerung an die Heerscharen mittelalterlicher Pilger, die von Polen, Deutschland, England, den Niederlanden und vor allem von Frankreich aus die Reise nach Santiago de Compostela antraten, wird an jedem Tag neu geweckt. Und je weiter man geht, verdichten sich die Eindrücke, die über die Motive dieser damaligen Völkerwanderung, die im Laufe der Jahrhunderte Millionen von Menschen mit sich riß, Aufschluß geben. Die Reise nach Santiago wird so zu einer Reise in die Vergangenheit.
Der Weg ist heute wieder gut markiert und in überschaubare Etappen eingeteilt. In einem ersten Pilgerführer aus dem frühen 12. Jahrhundert, dem Kalixtinischen Kodex, teilte der französische Geistliche Americo Picaud den Weg in 13 Etappen ein, die sich an die von Reitern pro Tag zurücklegbaren Entfernungen orientierten und auch Etappen zur religiösen Wiedergeburt symbolisierten. Ausdrücklich werden Pilgerreisen zu Pferd immer noch von der Kirche anerkannt. Von der französischen Grenze bis nach Santiago finden die heutigen Wanderer in Abständen von 20 bis 30 Kilometer „Refugios“ vor, in denen sie umsonst übernachten können. Dabei handelt es sich manchmal um Zelte, öfters um alte Herbergen oder um Gemeindeeinrichtungen der Kirche. Am eindrucksvollsten sind die Nächte, die in den Klöstern verbracht werden. Zumeist ist auch für Essen und Trinken gesorgt. Nach einigen Tagen schwinden jedoch die Bedürfnisse nach allem Opulenten. Für die 785 Kilometer, die in Spanien auf dem Weg nach Santiago zurückgelegt werden müssen, brauchen die Wanderer und Pilger 30 Tage, müssen aber leider einige Wegstrecken auf Teerstraßen zurücklegen, die in den letzten Jahren gebaut worden sind. Auch die „echten“ Pilger, die es noch vereinzelt gibt, sind nur noch mit Rucksack und Strohhut unterwegs. Der Stab und die Pellerine, die Pilgerflasche aus Kürbis, die sogenannte Gurde, und das Halsband mit der Jakobsmuschel, jene Insignien also, die im Mittelalter zur unumgänglichen Ausrüstung der Pilger gehörten, bleiben heute jenen Touristen vorbehalten, die in den Andenkenläden der katholischsten aller spanischen Städte ihr Geld loswerden wollen. Fromme Lüge
Zu Beginn des Santiagokults steht eine fromme Legende. Am Anfang des 9. Jahrhunderts, genau im Jahre 812, soll der Eremit Pelagius über einem Eichendickicht des Berges Libredon einen hellen Lichtschein gesehen und Engelchöre gehört haben. Daraufhin ließ sein Bischof Theodomiro eine Schneise zum Platz der Erscheinungen schlagen. Und siehe da: bei näherem Besehen des Ortes und unter den Klängen eines Engelschors fand sich eine Grabstelle, ein Marmormausoleum römischen Stils, das der pflichteifrige Gottesmann nach langen medidativen Versenkungen als die Grabstätte des Apostels Jakobus identifizierte. Die Gebeine des Apostels sollen nach dessen Hinrichtung in einem steinernen Boot vom Heiligen Land aus bis zum Atlantik getrieben und schließlich an der galicischen Küste angelandet sein. Und da waren sie nun wiederentdeckt, just zu dem Zeitpunkt, da die christlichen Bewohner der iberischen Halbinsel einer Übermacht muselmanischer Mauren gegenüberstanden, die 711 nicht nur das dort vorher bestehende Westgotenreich zerstörten, sondern auch gewillt waren, hier zu bleiben.
Zu dem Zeitpunkt also, als die fränkischen Heere 809 von Barcelona Krieg mit den Mauren begannen und nach Südwesten vorzustoßen trachteten, zu dem Zeitpunkt also, als die „Reconquista“, die Wiedereroberung der iberischen Halbinsel begann, kam der „Fund“ des Grabes des Apostels in Galicien gerade recht. Der Heilige Jakobus wies den christlichen Kriegern von nun an den Weg. Mit gezogenem Schwert, hoch oben auf einem mächtigen Roß, schlägt er noch heute den Moros die Köpfe ab, als Reiterstandbild gegenüber der Kathedrale von Santiago de Campostela. Der so umgedeutete Apostel, der „Matamoros“, der „Maurentöter“, wurde zum Schutzheiligen und zum Rückgrat der christlichen Wiedereroberungspolitik. Selbst als nach den Ausgrabungen im Jahre 1946 eine Menge Grabstätten unter dem Kirchenboden gefunden wurden, die darauf schließen lassen, daß diese Stelle ein traditioneller Begräbnisplatz der vorrömischen, römischen und suebischen Zeit gewesen war, setzte sich diese Erkenntnis in Spanien nur mühsam durch. Compostela ist eine alte Stadt und bestand schon lange vor dem Fund des Grabes und wurde nicht erst danach gegründet, wie es die christliche Legende und Geschichtsschreibung den Menschen über Jahrhunderte vormachen konnte. „Für Gott und den König“
Die fromme Lüge hat ihren Zweck erfüllt. Mit Santiago im Rücken wurden die Christen mutiger, mit dem im Mittelalter nie versiegenden Pilgerstrom wurde das Land besiedelt, denn viele der Pilger blieben vor Ort. Mit Santiago im Rücken gelang das Spanien tief prägende Zusammenspiel von weltlicher und kirchlicher Macht. Mit dem Santiagokult wurde Anfang des 12. Jahrhunderts sogar die Führungsrolle Roms als christliches Zentrum in Frage gestellt. Übrigens ein Tatbestand, der in der Legende schon selbst angelegt war: Die Reise des Leichnams des Jakobus von Jerusalem über das Mittelmeer bis hin nach Galicien umschrieb einen Bogen, der den territorialen Anspruch des Christentums markierte. Und seitdem das Heilige Land an die moslemischen Araber gefallen war, suchte der mittelalterliche Mystizismus ein neues spirituelles Zentrum, das nicht mit der machtpolitischen Kälte der römischen Kurie zu identifizieren war. Überhaupt, das in der Legende angelegte Verhältnis von Leben und Tod, von Reinigung und Buße, entsprach den spirituellen Bedürfnissen der religiösen Renaissance des Hochmittelalters, die nicht unmittelbar mit den machtpolitischen Bestrebungen der Zeit übereinstimmten, sie jedoch mittrugen. Nach dem endgültigen Sieg über die Mauren 1492 und der im selben Jahr stattfindenden Seereise von Kolumbus nach Amerika erscholl zwar bald auch auf dem neuen Kontinent der Schlachtruf „Für Gott und den König“. Der Santiagokult, der nun nur noch Antrieb für die Eroberung der Neuen Welt geworden war und im Zeitalter der Reformation seine spirituelle Tiefe verloren hatte, begann zu verkümmern. Der Weg nach Santiago de Campostela geriet in Vergessenheit.
Der Reiz, diesen Weg zu begehen, liegt vielleicht weniger darin, sich ausschließlich an die Aggressivität des Christentums zu erinnern, das die kulturell höher stehenden und zeitweise die Religionsfreiheit garantierenden Königreiche der Mauren auf spanischem Boden zerstörte und die Menschen mit den Mitteln der Inquisition gleichschaltete. Denn gerade die romanische Baukunst offenbart viel mehr. Betrachtet man die Skulpturen und Formen auf den Eingangsportalen der romanischen und frühgotischen Kirchen genauer, wird man überrascht sein, wie wenige christliche Wurzeln in der Symbolik stecken. In der Doppelaxt, dem Davidstern, den fünf Ecken, Alphas und Omegas, in den teuflisch-lustvollen Figuren kommen orientalische, ägyptische, jüdische, keltische, christlich -gnostische und andere Einflüsse zum Tragen, die einen weiten Spielraum für unterschiedliche Interpretationen lassen. Und sie zeigen auch, daß sich die Baumeister und die Gläubigen jener Zeit nicht so einfach vor machtpolitische Karren spannen ließen, die im nachhinein zwar die grobe Folie für die Interpretation der Geschichte bieten, jedoch nicht deren Feingewobenes offenbaren. Wer sich heute auf einen mittelalterlichen Trip begeben will, wandere nach Santiago de Compostela. Es ist ein Eintauchen in eine andere Weltzeit, die gerade durch das Wandern ermöglicht wird.
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