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Herbst-Szenen aus Peking

Von Studenten, Spitzeln, Bauernburschen und Schwarzhändlern  ■  Aus Peking Rainer Herrmann

Der nur mit etwa 70 Passagieren besetzte Großraumjet erreicht am frühen Nachmittag Peking. Erst beim Aussteigen fallen mir die vielen Herren auf. Die Erste Klasse war im Verhältnis zu der Touristenklasse gut ausgebucht. Das Chinageschäft scheint wieder in die Gänge zu kommen.

Am Zongwenmen ruft mir ein junger Chinese laut in Englisch durch den Bus zu: „Willkommen in China!“ Dann zwängt er sich durch die Leute, kommt zu mir und beginnt ein Gespräch auf chinesisch. „Ich habe leider etwas zu viel getrunken“, meint er, was bleibe einem in China heute auch anderes übrig, als sich zu betrinken. Als wir am Tiananmen, dem Platz des Himmlischen Friedens, vorbeifahren, bückt er sich. Mit der Hand zeigt er auf die dort postierten Soldaten: „Schau da, der Tiananmen-Platz, er ist jetzt tot!“ Die Mienen der anderen Passagiere drücken verhaltene Zustimmung aus.

Zwei Stationen später steigt er mit mir aus und geht weiter. Niemand hält ihn auf. Laut existierendem Militärrecht wäre er, wenn Spitzel der Geheimpolizei ihn beobachtet hätten, auf der Stelle verhaftet worden. Oder verfolgt ihn doch jemand, um ihn zur Rechenschaft zu ziehen?

Eine andere Momentaufnahme. In der Nähe der Dong-Chang -Straße stehen, wie an vielen anderen strategisch wichtigen Plätzen auch, zwei schwer bewaffnete Soldaten der Volksbefreiungsarmee unbeweglich unter einem großen Schirm. Plötzlich nimmt ein etwa achtjähriges Kind einen Stein auf, schleudert ihn mit all seiner Kraft gegen die Soldaten, läuft weg. Nach einer Schrecksekunde ertönt ein Pfiff. Aus einem nahestehenden Haus rennen Soldaten dem Kind nach. Es wird ergriffen und fortgeführt.

Auf der Fahrt zum Hauptbahnhof rutscht mir das Wort „Freiheit“ heraus. Unvermittelt fragt der Fahrer, ob ich den geflüchteten Studentenführer Wuer Kaixi kenne. Ich bejahe. „Würden Sie den auch unterstützen?“ Anschließend beginnt er vom Massaker des 4. Juni zu berichten, das er hautnah miterlebt hat. Dabei kommen ihm die Tränen. „Fast hätten wir unser Ziel erreicht“, fügt er hinzu. Auf meine Frage nennt er mir seinen Namen und Adresse und sagt: „Sag bitte keinem, worüber wir gesprochen haben.“ Er schweigt kurz und fährt dann leise fort: „Und wenn schon, es ist ja schließlich auch egal, für die Freiheit würde auch ich mein Leben opfern.“

Eines morgens besuche ich zusammen mit einem Studenten die Peking-Universität. Am bewachten Eingang zeigt mein Begleiter seinen Studentenausweis, und wir können passieren. Meine Papiere werden nicht kontrolliert. Der Student, der bei den Demonstrationen mitgemacht hat, erzählt, daß mindestens vier Studenten vom Militär auf dem Campus nach dem 4. Juni erschossen worden wären. Zwar gibt es hier jetzt keine Soldaten mehr, dafür aber zahlreiche Spitzel. Geheimpolizisten wurden als Studenten oder Lehrpersonal getarnt eingeschleust. Er erzählt, daß Anfang August 200 Studenten sich versammelt hätten und gemeinsam das Lied Gäbe es keine kommunistische Partei, dann gäbe es auch kein neues China gesungen hätten. Sehr schnell wäre die Versammlung von Sicherheitskräften aufgelöst worden.

Spät abends, bei strömendem Regen, steige ich am Qianmen aus der U-Bahn und suche eine Bushaltestelle. Da ich keinen Polizisten sehe, gehe ich auf Soldaten zu, die unter einem großen Regenschirm Rücken an Rücken die Kreuzung bewachen. Ich stelle mich zu ihnen unter den Schirm und erkundige mich nach der Bushaltestelle. Beide sind blutjung und sehr freundlich. Sie können mir aber keine Auskunft geben, da sie selbst zum ersten Mal in Peking seien und sich überhaupt nicht auskennen. Während der Unterhaltung mit ihnen wird mir erst recht bewußt, wie diese jungen Bauernburschen von der obersten chinesischen Regierung rücksichtslos mißbraucht werden.

Eine Chinesin, deren Mann vor dem 4. Juni zu einem kurzen Forschungsstipendium ins Ausland gefahren ist, beschwört mich, ihren Mann zu überreden, vorerst nicht nach China zurückzukehren. Am Telefon kann sie nichts sagen, da alle Auslandsgespräche abgehört werden. Sie hat Angst, daß er nach seiner Rückkehr verhaftet wird.

Freunde erzählen, daß immer noch regelmäßig Hinrichtungen in Peking stattfinden. Bekannte wohnen in der Nähe einer Hinrichtungsstätte. Nachts würden sie durch Schüsse aufgeschreckt und hätten auch häufig gesehen, wie gefesselte Personen mit Polizeifahrzeugen angeschleppt wurden. In der Presse und dem Fernsehen wird darüber aber kaum berichtet.

Das riesige Palace-Hotel, gerade erst fertiggestellt, macht einen verwaisten Eindruck. Nur noch wenige Touristen sind hier. Deshalb fallen die Hotelpolizisten, mit Pistole und Schlagstock ausgerüstet, um so mehr auf. Das Hotel scheint noch nicht einmal zu einem Fünftel belegt zu sein. Vor dem Eingangsportal, das dem Tor eines alten kaiserlichen Palastes gleicht, stehen zehn mächtige Mercedesse aufgereiht, dazu zwei Rolls-Royce. Eigentümer des Palace -Hotels und seines Fuhrparkes ist die Volksbefreiungsarmee.

Der Volksbefreiungsarmee gehören zahlreiche große Hotels, Restaurants, Fabriken der unterschiedlichsten Bereiche, Rüstungswerke und landwirtschaftliche Produktionsstätten. Eigentümer des prächtigen Kunlun-Hotels in Peking ist das Amt für Staatliche Sicherheit.

In jeder Arbeitseinheit laufen Studiensitzungen auf vollen Touren. Bei diesen Versammlungen wird die berühmte Rechtfertigungsrede Deng Xiaopings für die Niederschlagung der Proteste erläutert. Jeder einzelne muß erklären, wie er sich in den Tagen der Studentendemonstrationen - im offiziellen chinesischen Sprachgebrauch dem „konterrevolutionären Putsch“ - verhalten hat. Damit soll Material für Geheimpolizei und Sicherheitsbehörden gesammelt werden. Im Fernsehen werden dieser Tage häufig „Volksbefreiungssoldaten“ gezeigt, die selbstlos den Bauern helfen oder arme Leute unterstützen. Deng Xiaoping, der in „äußerst weiser Voraussicht die Konterrevolution gestoppt hat“, wird hochgelobt. Soldaten, die von aufgebrachten Bürgern gelyncht worden waren, nachdem sie ihre Magazine in die wehrlose Menge leergeschossen hatten, werden zu Volkshelden herausgeputzt, die ihr Leben einer gerechten Sache und dem Wohle des Volkes geopfert haben.

Bei den vielen Beobachtungen und Gesprächen gewinnt man den Eindruck, daß die überwältigende Mehrzahl der Bevölkerung sich des Betruges durch die Regierung bewußt ist. Gleichzeitig drängt sich einem auch der Eindruck auf, daß die Mächtigen furchtbare Angst vor der Unberechenbarkeit des Volkes haben, vielleicht sogar die wirkliche Situation in China vollkommen verkennen. Warum stehen sonst so viele Soldaten schußbereit in Peking, warum trifft man sonst des öfteren auf kleine Lastwagenkonvois, vollbepackt mit Soldaten.

Der Schwarzhandel mit Ausländergeld (FEC) geht derweilen ungestört weiter. Überall sprechen mich junge Chinesen an, ob ich Geld tauschen will. „100 FEC gegen 170 RMB.“ Nach erfolgreichem Abschluß eines Tauschgeschäfts frage ich vorsichtig nach dem 4. Juni. Sofort verstummt mein Tauschpartner. „Warum sollen wir darüber sprechen. Du weißt es genau und ich auch!“ Dann blickt er sich vorsichtig um, ob auch ja keiner seine Worte gehört hat und macht sich schnell aus dem Staub.

Mit einem jungen Arbeiter sitze ich auf einer Bank in den Anlagen des Himmelstempels. Über die Demonstrationen will er nichts sagen. Ich möchte wissen, was er sich unter Demokratie vorstellt. „Ich weiß nicht genau“, sagt er. „Ich war noch nie im Ausland. Oft frage ich mich aber, warum könnt ihr überall hinreisen. Arbeitet ihr wirklich mehr als wir? Ich glaube es nicht. Vielleicht bevormundet man uns zuviel. Ich glaube, wenn ich selber mehr mitbestimmen dürfte und manche Sachen auch selber entscheiden dürfte, dann wäre das schon etwas mehr Demokratie. Unsere Regierung behandelt uns wie unmündige Kinder.“

Kurz vor meiner Abreise besucht mich ein bekannter Schriftsteller. Er äußert sich zurückhaltend über die jüngsten Studentenunruhen. Er hat Angst. Beim Abschied zögert er etwas und bittet mich schließlich, ihn alle zwei Monate - jeden Monat wäre zu teuer - ganz kurz anzurufen und einige belanglose Sätze mit ihm auszutauschen. Fürchtet er, wie schon einmal während der Kulturrevolution, wieder in Gefängnisse zu kommen?

Viele Studenten wollen ausreisen. In den letzten beiden Tagen bitten mich vier Jugendliche, ihnen bei der Suche nach einem Studienplatz im Ausland behilflich zu sein. Ein wenig erinnerte mich China in diesen Tagen an den April 1976, kurz vor dem Sturz der sogenannten „Viererbande“. Mißtrauen, Unsicherheit, Hoffnungslosigkeit und Angst, aber doch auch oft Hoffnung. Was werden die nächsten Monate und Jahre den Chinesen bringen?

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