Die schwere Geburt

Die Idee kam von Hans W. Geißendörfer, dem kopflastigen deutschen Filmemacher, als er an einem Abend im Dezember 1982 mit dem WDR-Fernsehspielchef Gunter Witte in einem kleinen italienischen Restaurant bei München zusammensaß, so berichtet es das Buch Lindenstraße: Geschichten, Bilder, Hintergründe. „Sowas wie die Engländer mit der Coronation Street“ wollte Geißendörfer machen. Die legendäre Soap-opera Coronation Street erzählt seit 29 Jahren vom Leben einer Yorkshirer Arbeitergegend, und Geißendörfers englische Frau Jane kannte manchen Arbeiter der Serie schon als sechsjährigen Schüler. Mit so einer Dauerserie wollte er ein „neues Kapitel Fernsehgeschichte schreiben“.

Bis dahin war der Weg mit Dornen gepflastert. Anfang 83 begann Geißendörfer bei allen ARD-Fernsehspielchefs zu tingeln. Er sprach vom „Reiz des Alltäglichen, von spannenden Schlüssellochperspektiven, einem endlosen Mietshausmelodram“. Das Interesse war mäßig, zumal er den Ruf eines Filmemachers hatte, der sich mit „Literaturverfilmungen rumqälte, Scholler in den Wilden Westen verlegte und nach neuem deutschen Film aussah“. Nur der WDR hielt Geißendörfer die Stange und finanzierte ihm einen Entwicklungsauftrag für die Lindenstraße. Denn die Dauerserie muß schnell produziert werden: Die Drehbücher werden ein Jahr im voraus geschrieben. Drehzeit ist zwölf Wochen vorher. Jede Folge muß in einer Woche fertig sein, inzwischen schafft man es in nur vier Tagen.

Im Sommer 83 entwarf Geißendörfer zusammen mit der Autorin Barbara Piazza die Figuren der Lindenstraße: das vertratsch-vertrottelte Hausmeisterehepaar Kling, den schwulen Medizinstudenten Carsten Flöter, die Wohngemeinschaft, die herzensgute Familie Beimer. Dann schrieben die beiden auch gleich die Drehbücher für das erste Jahr: Der Playboy Stefan Nosseck reißt „Lolita“ Tanja Schildknecht auf, Berta Nolte und Gottlieb Griese lernen sich kennen, Chris Barnsteg wird schwanger, und Marion Beimer verliebt sich in Vasily Sarikakis. Für den gebürtigen Augsburger konnte die Serie nur in München spielen. Man suchte „möglichst unbekannte“ Schauspieler, der erste Drehtag sollte im September 84 sein. Aber es stellte sich heraus, daß die Lindenstraße doch so teuer würde, daß nur alle ARD-Anstalten gemeinsam sie hätten finanzieren können. Bis sich die Programmdirektoren dort allerdings mal einigen, das dauert in der Regel. Erst mal kam ein verhaltenes Jein. Zu grau, zu bieder sei der ARD das Konzept wohl gewesen, meinte Geißendörfer, der langsam nervös wurde, Probebänder machen ließ und noch ein paar Drehbücher verfaßte, bis im Frühjahr 84 ein entschiedenes Nein vom Bayerischen Rundfunk kam. Der Sender hätte einfach nicht genug Studiofläche gehabt, um sie ausschließlich für die Serienproduktion zu reservieren.

Deshalb nahm der WDR die Sache in die Hände. Die „Lindenstraße“ wurde auf dem Freiluftgelände Böcklemünd bei Köln als potemkinsches Dorf gezimmert. Und dort steht sie noch heute, weshalb wohl die Lindenstraße schauspielermäßig unaufhaltsam „verpreußt“, wie sich unlängst Annemarie Wendl, die Darstellerin der Else Kling, beklagte. Sein Konzept mußte Geißendörfer finanziell abspecken: von 14,5 Millionen für 52 Folgen runter auf 11,8 Millionen; Einsparungen, denen beispielsweise ein Sohn von Klings zum Opfer fiel und die einige Figuren ins Off verbannte.

Am 6. August 1985 war Richtfest in der „Lindenstraße“. Etwa gleichzeitig beschloß die ARD auf Beschwerden der Programmabgleicher des ZDF hin, den Sendetermin vom Abendprogramm auf Sonntag um 18.40 Uhr zu legen - ein schwerer Schlag für Geißendörfer. Im Septenmber 1985 fiel trotzdem die erste Klappe. Während der Anfangsdrehtage herrschte Chaos: Das Team war nicht an Fernsehspielproduktionen gewöhnt, die Beleuchtung veraltet, das mit den vielen kleinen Wohnungen vollgestopfte Studio war zu klein. Entsprechend fielen die ersten Folgen aus: Es gab nur Prügel für Geißendörfer und sein Lieblingskind. „Wirklich Spaß machen wird diese miefig-mürrische Sendung nur den Leuten vom ZDF“, schrieb 'Bild‘. Eine Kur für Geißendörfer in der Schwarzwaldklinik empfahl die 'Bunte‘. „Selbstherrlichkeit und schlichte Überforderung“ diagnostizierte die 'HörZu‘, und „unbeabsichtige Volksstückkarikatur“ rügte die 'Süddeutsche Zeitung‘. „Nein, so schlecht muß das Leben nicht spielen“, schloß die 'FAZ‘ den Reigen. Nur die taz verschlief das Ereignis.

Heute, knapp vier Jahre später, wendete sich so nach und nach das Blatt der Kritikergunst. „Die Lindenstraße sollte unbedingt weitergeführt werden“, meinte Gustav Jandek von der 'Bunten‘. Konsequent blieb Reginald Rudorf von der 'Bild‘: Persönlich gefällt ihm die Serie immer noch nicht, aber der WDR wäre angesichts der Einschaltquoten gut beraten, sie weiterzuführen, „bis Nowottny ein Bart wächst“, und die 'Süddeutsche‘ stellte resignierend fest: „Lindenstraße anschauen, das ist wie mit dem Hammer auf den eigene Daumen schlagen. Es ist so schön, wenn der Schmerz nach 30 Minuten nachläßt.“

Im Oktober 88 wurde gar Bayerns CSU-Rechtsaußen Gauweiler auf die Serie aufmerksam: Chris Barnsteg bezeichnete ihn als Faschisten. In vorauseilendem Gehorsam schnitt der Bayerische Rundfunk diese Szene raus.

„Lindenstraße: Das Buch.

Geschichten, Bilder, Hintergründe. 29,80 DM

Zeitgeist-Verlag Düsseldorf

Hrsg: Monika Paetow/WDR, Autor: Martin Keß.

Hardcover, 192 Seiten. Mit 200 Fotos und beigefügtem Poster: „Das Who's Who des Tohuwabohu“.

„Wir warten auf Lindenstraße“: Die Platte

Hrsg: Vielklang; erscheint am 10.11. 89, in allen Plattenläden erhältlich. Mit: Hagen Liebing, Gay City Rollers, Der wahre Heino, die Mimis, die Frohlix, Abstürzende Brieftauben, Max Goldt, Schauspielern der „Lindenstraße“ u.a.