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MIT HÖCHSTER GEWALT

■ Mahlers Neunte mit den Berliner Philharmonikern und Ricardo Chailly

Die Neunte von Mahler steht in D-Dur, aber sie endet in Des -Dur. Celli und Geigen spielen den Akkord, mit Dämpfer in dreifachem und vierfachem Pianissimo. Dazu von den Bratschen noch eine Triole, den letzten Rest vom Bruchstück einer Melodie. Die Bratscher in der Philharmonie verharren eine Spur länger auf der Dissonanz vor dem letzten Ton, für einen Moment verweigern sie die Auflösung, als sei es Schönberg. Und es ist still in der Philharmonie, als sei sie leer.

Ricardo Chailly winkt den Schlußakkord (ersterbend) nicht ab. Wie bei Wagners Rheingold nicht zu hören ist, wann die Musik anfängt, hört sie hier nicht auf. Chailly verzichtet auch darauf, langsam die Arme zu senken - diese pathetisch-theatralische Geste, mit der der Zirkusdirektor am Ende das Publikum in Schach hält. Er steht einfach da und bewegt sich nicht mehr. Er ist machtlos. Prompt fallen ihm die Zuhörer mit Applaus in den Rücken. Das war zu erwarten. Diese Musik sei dem Deserteur in den Mund gelegt, schreibt Adorno. Bei Chailly kann man es sehen.

Einen solchen Schluß hätte ich den Philharmonikern nicht zugetraut. Vielleicht liegt es an Chailly. Vielleicht liegt es daran, daß der Kitsch und die Schönheit der Mahlerschen Melodien genau den berühmten weichen Philharmoniker-Sound verlangen, der diesmal nicht klang wie Routine, sondern wie eigens für die Neunte entwickelt. Vielleicht liegt es daran, daß Mahlers Neunte so schwer zu spielen ist: keine Zeit für High Fidelity. So gnadenlos böse habe ich den rasend schnellen Schluß der Rondo-Burleske noch nie gehört. Oder die Stelle im ersten Satz, in der Posaunen und Tuba mit dreifachem forte mit höchster Gewalt den synkopischen Grundrhythmus schmettern, diese Katastrophen-Stelle, nach der die Musik sich nicht mehr erholt und nur noch Verzerrtes zustande bringt, geriet zwar viel zu sanft, aber die Paukenschläge danach waren grausam genug.

Vielleicht liegt es daran - kaum zu glauben nach den letzten, enttäuschenden Konzerten -, daß die Philharmoniker doch zu den besten Orchestern gehören. Entscheidend in Mahlers Neunter sind schließlich nicht die Tutti-Stellen, sondern die Kammermusik dazwischen, die Soli in den beiden langsamen Ecksätzen, die Episoden in den schnellen Mittelsätzen. Und die Philharmoniker sind Solisten. Der Hornist legt das extrem schwer spielbare Duett mit der Flöte am Ende des in sich zerfallenden Andante hin, als dudelte er beiläufig und selbstvergessen ein paar Tonleitern. Nach dem, was voranging - mit höchster Gewalt - läßt sich nicht mehr aufspielen. Oder die Klarinetten: Die billigen, ordinären Einwürfe im Ländler spielen sie mit einer Lust am häßlichen Ton, daß die Streicher dagegen wie brave Musterschüler wirken. Oder das Cello im letzten Satz, die Bratsche immer wieder.

Und dann gab es Momente, in denen die Solisten vor lauter Verliebtheit in die schöne Stelle den Rest vergaßen. In denen die Streicher schon weiter spielten, während Oboe und Flöte sich einander noch zuneigten. In denen die Pauke wieder mit Wucht dazwischenfuhr, während die Geigen noch die letzten Sechzehntel ziselierten. So etwas ist selten, nicht nur in deutschen Konzertsälen.

Vielleicht aber lag es am Flötisten. Beim Duett mit dem Horn wird er einmal ganz allein gelassen: über einer flüchtigen Pianissimo-Triole der Bässe muß er ein schwindelnd hohes C spielen, einen Sextsprung aufwärts, mit Triller vorneweg, und keiner hilft ihm. Der Ton kam nicht. Nur ein pfeifendes Geräusch. Ein Hauch von Musik, aber schräg. Es war die einzige Stelle im anderthalb Stunden langen Lied vom Ende, wo einer hörbar technisch versagte. Mahler hat das Risiko auskomponiert. Man bangt um jeden Ton.

chp

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