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Kriminelle Wiedervereinigung

DDRler reisen auf einer Welle von Gefühlsduselei aus  ■ K O M M E N T A R E

Für den Minister des Äußeren war es „die bewegendste Stunde meiner politischen Arbeit“, und die TV-Sender spulten die rührende Szene am Wochenende gleich Dutzende Male ab: Genscher nimmt auf dem Botschaftsbalkon das Wort „Ausreise“ in den Mund, und ein Begeisterungssturm bricht los. Doch nicht nur bei den Flüchtlingen hat Honeckers „humanitärer Akt“ Erleichterung ausgelöst, auch in der BRD herrscht eitel Freude - die Ankunft der Reichsbahnsonderzüge fand unter volksfestartigem Jubel statt.

Was gibt es da eigentlich zu feiern? Natürlich sind die Flüchtlinge froh, daß sie der ungeliebten DDR und der selbstgewählten Kloake im Notbiwak Botschaftsgelände entkommen sind, und natürlich freut sich das westliche Publikum mit, wie bei jeder Katastrophenschnulze, die endlich ihr Happy-End gefunden hat. Darüber hinaus freilich besteht keinerlei Grund zur Begeisterung, es sei denn, man kocht sein ideologisches Süppchen auf dem Flüchtlingsdrama dergestalt, daß man die Freiheit im Kapitalismus noch neonstrahlender als sonst und die höllische Finsternis des Sozialismus dumpfer denn je erscheinen läßt. Eben dieses Süppchen, an dem Kohl und Konsorten traditionsgemäß köcheln, wird mit der Ausreisewelle kräftig hochgekocht, verpackt in Humanitas und deutsch-deutsche Tümelei - ein Emotionsbrei, der den Blick auf die Realitäten verkleistert.

Schon rumort allenthalben ein Begriff, der bis dato nur noch in den Hirnen reaktionärer Ostlandritter präsent war: Wiedervereinigung. 80 Prozent aller Bundesbürger sollen laut Emnid-Umfrage dafür sein. Wie das auszusehen hat, kann man sich unschwer vorstellen: Natürlich müssen wir dem Osten die Freiheit des Westens bringen, denn: „Unsere Ideen haben weltweit gesiegt“ (Kohl) - versteht sich, daß im Freudentaumel über den „Niedergang des Sozialismus“ von realistischen Möglichkeiten einer gesamtdeutschen Normalisierung - etwa der Anerkennung der DDR -Staatsbürgerschaft als Voraussetzung für größere Freizügigkeit im Reiseverkehr - nirgends die Rede ist.

Genausowenig, wie von dem Status die Rede ist, der den jetzt Eingereisten gebührt: Es sind „Wirtschaftsflüchtlinge“, Leute, die sich von der Prosperität der Bundesrepublik ein Scheibchen BMW und ein paar Neckermann-Reisen abschneiden wollen. Außer, daß sie aus der unmittelbaren Nachbarschaft stammen, unterscheiden sie sich nicht von denen, die aus dem Libanon, Kurdistan, dem Iran oder von wo auch immer zu uns kommen - bis auf den feinen Unterschied, daß in der DDR zwar bleierne Verhältnisse, aber weder Krieg und Chaos herrschen noch gefoltert oder gehungert wird. Und doch kämen nur absolute Unmenschen auf die Idee, mit den glücklich Ausgereisten das zu tun, was die Mehrheit von REPs und Christen in der Bundesrepublik mit jedem „Wirtschaftsasylanten“ am liebsten tun würde: ihn schleunigst zurückzujagen. Daß zwischen „Deutschen“ und „Ausländern“ kein Unterschied besteht - auch diese Selbstverständlichkeit droht im gesamtdeutschen Gefühlsdusel unterzugehen.

Mathias Bröckers

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