piwik no script img

Freiheit aus der Wermutpulle

■ Die DDR'ler können gar nicht so schnell flüchten, wie die BremerInnen helfen wollen

Das Zittern um den eigenen Arbeitsplatz, die Angst, die Neuen könnten die letzte Wohnung wegschnappen: weg ! Ein paar Fernsehbilder, die Einfahrt eines Sonderzugs in einem bayerischen Hauptbahnhof - und Millionen Bundesbürger sind überzeugt, daß ihre Großzügigkeit mehr denn je gefragt ist. Im Übergangslager Scharnhorst-Kaserne häufen sich Spenden Tüten, Wohnungs- und Stellenangebote, bieten Leute ehrenamtliche Hilfe an, wollen Patenschaften gegenüber DDR -Familien übernehmen. Was treibt Sie?

Heinz K.: Bei mir ist es einfach so, ich habe ein ähnliches Schicksal. Ich habe 1976 versucht, meine Frau aus der DDR herauszuholen. Wir sind aufgeflogen. Ich habe zwei Jahre, 10 Monate gekriegt, meine Frau zwei Jahre und

drei Monate. Nach 12 Monaten wurde meine Frau freigekauft, nach 14 Monaten dann ich. Wir haben damals in Bremen im Lager Lesum gewohnt.

taz: Hier in der Scharnhorstkaserne gibt es ja geradezu eine Welle der Hilfsbereitschaft gegenüber den DDR-Übersiedlern. Haben Sie das damals auch so erlebt.

Ja, auch wir haben damals Hilfe bekommen, wurden eingeladen, bekamen Spenden. Mit den Leuten bin ich noch heute befreundet. Und deswegen habe ich mir jetzt auch gesagt: Ich nehme mir auch mal Leute mit nach Hause, lade sie zum Abendessen ein, zeige Ihnen Bremen, helfe Ihnen, eine eigene Wohnung zu finden.

Wo ist die Hilfe am nötigsten, die Probleme am größten?

Hauptproblem ist die Umstel

lung, hier mit dem Geld umzugehen. Die Preise gegenüber der DDR sind ja völlig anders. Außerdem kriegt man hier gleich alles. Auto, Fernseher, Möbel, alles worauf man in der DDR lange warten mußte.

Dazu kommt: Hier haben die Leute keinen mehr, der sie schubst, keine Partei, keine Gewerkschaft, keine FDJ, die sagt „Genosse, tu dies, tu das“. Hier ist es tatsächlich so, wie in der französischen Revolution gesagt wurde: Arm und Reich ist gleichermaßen erlaubt, unter Brücken zu schlafen. Wer hier mit der Wermut-Pulle auf der Bahnhofsbank leben will, der kann das machen.

Würden Sie sich eigentlich genauso kümmern, wenn hier im Übergangslager keine DDR-Übersiedler, sondern ausschließ

lich deutschstämmige Polen wohnten.

Also, im Prinzip ist mir das egal. Praktisch gehe ich natürlich aber erst mal zu den DDR-Bürgern, weil ich da keine Verständigungsprobleme habe. Die polnischen Aussiedler können ja zum größten Teil gar nicht mehr richtig deutsch sprechen. Und dann, schreiben Sie das aber bloß nicht, bei den Polen ist ja oft das einzig Deutsche noch der Schäferhund.

Was haben Sie gedacht, als Sie die Fernsehbilder gesehen hatten mit der Ankunft der Sonderzüge?

Mir standen die Tränen in den Augen - obwohl ich überzeugt bin: 10 bis 15 Prozent von denen, die jetzt angekommen sind, werden in ein paar Jahren wieder an der Mauer stehen und sagen: Erich, laß uns wieder rein.

Fragen: K.S.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen