: Indiens Städte stehen vor dem Kollaps
Bis zur Jahrtausendwende werden von einer Milliarde Indern 350 Millionen in Städten leben / Versorgungsbetriebe sind ihrer Aufgabe nicht mehr gewachsen In den nächsten 20 Jahren müßten jährlich 4 Milliarden Mark investiert werden / Die Regierung setzt nur darauf, technische und militärische Großmacht zu werden ■ Von Walter Keller
Es regnet in Strömen. In dieser Nacht werden Krishna, seine Frau Anita und die beiden zwei- und dreijährigen Kinder Santosh und Seema kein Dach über dem Kopf haben. Irgendein Bürgersteig wird es sein, auf dem sie ihre müden Körper zum Schlafen legen. Nachmittags haben Angestellte der Stadtverwaltung von Bombay ihre Hütte niedergerissen, die in unmittelbarer Nähe zu einer modernen Mittelklassewohnsiedlung im Zentrum der Stadt lag. Sie bestand aus mehreren zusammengeflickten Jutesäcken, die von einem Gerüst aus Bambusstangen getragen wurden. Für die Familie von Krishna war es nicht das erste Mal, daß sie eine solche Demütigung erfahren mußte. Trotzdem werden sie alle zurückkehren, sobald genügend Baumaterialien zusammengetragen sind. Krishna wird dann das Armenquartier erneut irgendwo in der Stadt aufschlagen.
Er zählt mit seiner Frau und den beiden Kindern zu den etwa fünf Millionen Einwohnern der Zehn-Millionen-Stadt Bombay, die in armseligen Hütten leben, in „zopadpatties“, wie sie in der wohlhabendsten Stadt Indiens genannt werden. Insgesamt sind es in Indiens Großstädten 25 Millionen, die armseligen Bretterbuden, eine aufgespannte Plastikplane, ein Stück der Straße, eine kleine Ecke in einem Bahnhof oder einer Straßenunterführung ihr Zuhause nennen. Kinder werden dort gezeugt und geboren - Zehntausende sterben jährlich, ohne das Säuglingsalter überlebt zu haben. Trinkwasser kommt für sie aus dem Loch einer defekten Leitung, die eigentlich den Reichen das begehrte Naß bringen soll.
Krishna ist einer von Millionen Vergessenen, einer der Verdammten des 800-Millionen-Landes voller Gegensätze. Seine Familie zählt zu denjenigen, die von den meisten Reichen verachtet werden. Ihre Hütten, die ausgebreiteten Plastikplanen, der ganze Schmutz und Gestank der Slums passen nicht in ihr westlich geprägtes Bild von einem modernen Indien. Ihr Indien ist die wirtschaftlich und technologisch aufstrebende südasiatische Supermacht, die Atomkraftwerke oder Mittelstreckenraketen baut. Die Armen sind daher nichts anderes als ein Schandfleck in ihrem ästhetischen Empfinden.
Wie Krishna, der vor zehn Jahren nach Bombay kam, verlassen auch weiter Jahr für Jahr Millionen von Menschen das verdorrte Land und ziehen in die Städte auf der Suche nach Arbeit. Sie wollen der wachsenden ländlichen Armut, Schuldknechtschaft oder der Unberechenbarkeit von Großgrundbesitzern entfliehen. Andere erhoffen sich von der Stadt größere Anonymität, in der vor allem das Kastenbewußtsein weniger stark ausgeprägt ist. Viele hängen auch einfach einem Traum nach: daß in der Stadt Milch und Honig fließen.
„Es ist so, als wenn mehrere tausend Rettungsboote versuchten, einige wenige Inseln zu erreichen“, umschreibt der Soziologe Ghandan Sengputa die Landflucht. Einige neue Faktoren für das Anwachsen der Städte kommen hinzu: Wegen zahlreicher, vor allem von der Weltbank finanzierter „Entwicklungsprojekte“, müssen immer mehr Menschen ihre angestammten Wohngebiete verlassen. Viele werden sogar vertrieben, wenn ihr Land für militärische Zwecke genutzt werden soll.
Bald 20 Millionenstädte
So ist während der letzten zweieinhalb Jahrzehnten die Zahl der in Städten lebenden Menschen um das Vierfache angewachsen. 1951 waren es 56 Millionen, mittlerweile sind es 230 Millionen: mehr als ein Viertel der Gesamtbevölkerung Indiens lebt heute in Städten. Bis zur Jahrtausendwende soll es in Indien 16 oder vielleicht sogar 20 Millionenstädte geben. Bombay, Kalkutta, Delhi und Madras, wo heute schon weitgehend Chaos herrschen und jeder Dritte in Slums lebt, werden zusammen dann über 50 Millionen Einwohner haben. Den Prognosen zufolge werden zu den Stadtmonstern noch einmal 200 Städte mit Einwohnerzahlen von über 100.000 hinzukommen, weil die ländliche Migrationswelle in Zukunft die Riesenstädte eher meiden wird, müssen dann gerade die mittelgroßen Städte mit einem überdurchschnittlichen Wachstum rechnen.
Der Subkontinent ist bereits doppelt so dicht wie China besiedelt. Jedes Jahr werden 800 Millionen Verhütungsmittel zu geringen Kosten verteilt. Bis zu fünf Millionen Männer und Frauen sind sterilisiert. Dennoch werden alljährlich 17 Millionen neue Babies geboren. Doch auch die Kehrseite, die Kindersterblichkeitsrate, bietet mit 1,5 Millionen Babies, die jedes Jahr durch Frühgeburten sterben, ein trauriges Bild. Der kürzlich veröffentlichten Untersuchung India 2021 zufolge werden in etwas mehr als zehn Jahren eine Milliarde Menschen in Indien leben, 350 Millionen davon in Städten - die Mehrzahl von ihnen, so wie Krishnas Familie, ohne feste Bleibe, immer auf der Flucht vor der Willkür der Behörden und ohne Aussicht auf Besserung. Programme, um die Landflucht zu stoppen oder die städtische Wohnungsnot zu lindern, gibt es nur wenige. Die Regierungen der letzten Jahrzehnte haben stets gehofft, daß die Städte ihre Probleme selber in den Griff bekommen. „Es existiert praktisch keine pragmatische Städte- oder Wohnungsbaupolitik“, kritisiert der Stadtplaner N.N.Buch.
Riesige Investitionen nötig
Um das Leben in den Metropolen erträglicher zu gestalten, müßten riesige Beträge in den Bereichen Wasserversorgung, Kanalisation, Straßenbau, Stromversorgung und Wohnungsbau investiert werden. In ihrem Bericht an die Regierung nennt die „Nationale Städtekommission“ konkrete Zahlen: Um dem permanenten Wachstum der Städte gerecht zu werden, müßten während der kommenden 25 Jahre jährlich umgerechnet zwischen vier und fünf Milliarden Mark investiert werden. Um die Wohnungsnot zu beseitigen, bedürfte es mindestens 50 Millionen neuer Wohneinheiten innerhalb der nächsten 15 bis 20 Jahre.
Aber anstatt die notwendigen Gelder für die Verbesserung der Lebensverhältnisse der Armen und Obdachlosen und für die Sanierung der Städte bereitzustellen, werden riesige Summen für den Bau von Monumenten, Mausoleen und äußerst fragwürdigen Prestigeobjekten bereitgestellt, meinte kürzlich das Nachrichtenmagazin 'Illustrated Weekly‘. „Wenn es darum geht, Wohnraum für die Armen zu schaffen, zieht sich die Regierung mit der Bemerkung aus der Verantwortung, es seinen keine Mittel vorhanden“, kritisiert das Blatt weiter. Darüberhinaus ist Premier Gandhi offensichtlich mehr daran interessiert, Indien zu einer militärischen Großmacht aufzupolieren. Milliarden fließen jährlich in den Verteidigungsetat, mit dem modernste Rüstungsgüter beschafft werden - angesichts des Elends von Millionen ein nur schwerlich zu überbietender Zynismus.
Anstatt Schrittmacher für Fortschritt zu sein, werden die Städte wohl dem totalen Zusammenbruch nicht entgehen können. Der endlose Strom der Zuwanderer wird sich auch zukünftig weiter in menschenunwürdige Wohnviertel ergießen und die Metropolen immer mehr in gigantische Slums verwandeln. Schon heute stehen viele städtische Dienstleistungsunternehmen vor dem Versorgungsnotstand.
Ein Viertel der Bevölkerung in den meisten Städten hat weder Zugang zu Leitungswasser noch existiert eine adäquate Abwasserbeseitigung. Wasserknappheit gab es früher nur im Sommer. Jetzt klagen viele Städte über permanenten Wassermangel. Die Fünf-Millionen-Metropole Madras im südlichen Indien hat es während der letzten Jahre besonders hart getroffen. Dort gibt es oft nur nachts Trinkwasser. Um größere Katastrophen zu vermeiden, mußten im letzten Sommer Hunderte von Tankfahrzeugen eingesetzt werden, die aus den ländlichen Gebieten Wasser für die dürstende Bevölkerung in der Metropole herankarrten. Ergebnis war das zum Teil drastische Absinken des Grundwasserspiegels in den Gebieten um Madras.
Auch in anderen Städten ist die Situation oft nicht besser. In der am schnellsten wachsenden Stadt Indiens, in Bangalore im Bundesstaat Karnataka, die heute schon vier Millionen Einwohner zählt, sind die Wasserhähne 22 Stunden am Tag trocken. In den meisten Stadtteilen Lucknows im Norden Indiens tröpfelt das Wasser alle Stunden einmal. Und in den Städten, wo es das kostbare Naß gibt, ist es oft verschmutzt. Selbst die Regierung gibt zu, daß 40 Prozent des Wassers verunreinigt ist. Verseuchtes Wasser, die offenen Kanalsysteme, durch die menschliche Exkremente ungeklärt in Flüsse oder ins Meer fließen oder die stinkenden Abfallhaufen, in denen Ratten und Lumpensammler wühlen, sind Ursache für zahlreiche Krankheiten wie Tuberkulose und Lepra.
Zu all den Problemen gesellt sich in den meisten Städten Indiens noch ein Verkehrschaos ungeahnten Ausmaßes. Hunderttausende Personenwagen, schwarze Rauchwolken emittierende Busse oder Lastwagen verursachen eine dramatische Luftverschmutzung, an der auch die in den Ballungszentren existierenden Industrieunternehmen nicht unschuldig sind. Die Luftverschmutzung erreicht in vielen Gebieten Werte, die 300 Prozent über den erlaubten Grenzwerten liegen. Über eine Million Privatfahrzeuge bahnen sich ihren Weg durch die permanent verstopfte Hauptstadt Dehli, 500.000 durch Bombay und 400.000 durch Kalkutta. 5.000 Busse befördern alleine in Dehli täglich fünf Millionen Menschen. Und weil die Städte sich auch flächenmäßig weiter ausdehnen, muß der öffentliche Nahverkehr immer mehr Vororte bedienen. Die riesigen Schmelztiegel der Kulturen werden immer explosiver. Immer häufiger kommt es zu gewalttätigen Ausschreitungen zwischen den vielen Volks- und Religionsgemeinschaften, die hier oft Tür an Tür leben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen