piwik no script img

Furchtbarer Augenblick

 ■ S T A N D B I L D

(Kreuzzug und Satyrspiel, Literaturmagazin N3 am Dienstag um 22.30 Uhr) Arno J. Mayer hat im Rowohlt-Verlag eine umfangreiche Untersuchung - Der Krieg als Kreuzzug vorgelegt, in der er die Auffassung stark zu machen versucht, die systematische, industrielle Vernichtung der europäischen Juden sei nicht etwa trotz des Scheiterns des Krieges gegen die Sowjetunion betrieben worden, sondern sie habe sich aus vagen Ideen, wüsten Phantasien und von einigen Trupps betriebenen Plänen zur Realität der Vernichtungslager erst entwickelt, als klar geworden war, daß das „Unternehmen Barbarossa“ kein Blitzkrieg werden würde, daß das gehaßte bolschewistische Rußland, daß die slawischen Untermenschen dem Ansturm der sieggewohnten arischen Herren Europas widerstehen würden.

Arno J. Mayer wurde vorgeworfen, er verharmlose die Nazis. Schließlich sei die Vernichtung der Juden von Anfang an Teil, wenn nicht ihres Parteiprogramms, so doch ihrer Weltanschauung gewesen. So zu tun, als seien die Nazis in die Judenvernichtung hineingestolpert, ja durch eine geheimnisvolle Verbindung militärischer, politischer und psychologischer Motive in eine Dynamik getrieben worden, die sie in der Verwandlung der europäischen Juden in den Rauch über den Gasöfen von Treblinka und Auschwitz ihr Heil sehen ließ, sei nicht nur historisch falsch, sondern trage zur von rechts betriebenen Entschuldigung der Vergangenheit bei.

Am Dienstag abend waren bei Wilfried Rott im „Berliner Salon“ neben Arno J. Mayer, Erwin Jäckel, Michael Schneider und Herbert Rosendorfer. Am interessantesten fand ich - so wichtig Michael Schneiders Erinnerung an die Greuel der deutschen Wehrmacht in der UdSSR sind - die Auseinandersetzung um Mayers Thesen. Der in Luxemburg geborene, in Princeton lehrende Historiker erklärte, er habe sich nicht mit Antisemitismus beschäftigen wollen, nicht einmal mit dem Rassenwahn der Nazis, nicht mit den Pogromen und ihrer Geschichte. Damit leben die Juden, sagte Mayer, seit sie in Europa sind. Ihn interessiere, wann, wie und warum der „normale“ Pogrom umkippe in die systematische Vernichtung. Das zu wissen, sei für ihn schließlich überlebenswichtig. Der Antisemitismus, der Rassenwahn sei eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für den Völkermord. Um den Wahn Wirklichkeit werden zu lassen, bedürfe es eines Auslösers, einer sehr besonderen Konstellation. Die herauszuarbeiten sei Ziel seiner Untersuchung.

Mayer betont also nicht die Kontinuität, sondern den Bruch. Er zeigt nicht, daß alles schon einmal dagewesen - das Hauptvergnügen seiner Zunft -, sein Interesse gilt dem plötzlichen Umschwung, dem Kippmoment, dem furchtbaren Augenblick, durch den das mörderisch Neue in die Geschichte kam.

Arno Widmann

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen