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Zwei Millionen Arbeitslose - eine Fata Morgana?

Warum DDR-Übersiedler trotz hoher Arbeitslosigkeit kaum Probleme haben, eine Stelle zu finden / Sie sind meistens besser qualifiziert und flexibler / Eine direkte Konkurrenz mit „alteingesessenenen“ Arbeitslosen existiert deshalb noch nicht  ■  Von Vera Gaserow

Berlin (taz) - Regelrecht „abgefischt“ hätten zahlreiche Arbeitgeber im Aufnahmelager für DDR-Übersiedler in Schöppingen, berichtet der Sprecher des Landesarbeitsamts Nordrhein-Westfalen. Unglaubliche Szenen hätten sich dort abgespielt: Stellenangebote für die Neuankömmlinge seien an Zäune und Trabbi-Scheibenwischer geheftet worden. In wahrer „Supermarktmentalität“ seien einige Arbeitgeber in Schöppingen herumgelaufen'und hätten sich wie aus dem Regal mit passenden Leuten bedient.

„Beinahe totgeschmissen“ mit Stellenangeboten würden die Übersiedler aus der DDR, meint man hinter vorgehaltener Hand auch bei der Bundesanstalt in Nürnberg. Und die 'Bild' -Zeitung demonstriert es jeden Tag auf ihre Weise: die Neuankömmlinge aus Karl-Marx-Stadt, Halle oder Bitterfeld sind derzeit die begehrtesten Arbeitskräfte. Seit gut zwei Wochen werben Firmen unter der Rubrik „Deutsche helfen Deutschen - Bild-Leser helfen DDR-Flüchtlingen“ mit freien Stellen vor allem in handwerklichen Berufen. Massenarbeitslosigkeit in der Bundesrepublik - eine Fata Morgana oder plötzliche Hilfsbereitschaft der Unternehmer mit Polit-Bonus für DDRler?

„Ob die Leute aus der DDR kommen oder nicht, ist mir egal, wir bemühen uns um Arbeitskräfte und nicht speziell um DDRler“, stellt Günther Fielmann, Chef des Billig-Brillen -Unternehmens klar, der mit gleich 150 Stellenangeboten für DDR-Übersiedler werbewirksamer Spitzenreiter bei der 'Bild' -Zeitungsaktion war. Warum er diese 150 Stellen nicht schon vorher bundesdeutschen Arbeitslosen oder Ausländern angeboten habe? Auf diese Frage hat Fielmann nur gewartet: ständig habe sein Unternehmen um Arbeitskräfte geworben. Noch als die ersten Übersiedler aus der DDR ankamen, habe er hilfesuchend alle Arbeits- und Sozialämter der Republik anschreiben lassen. Gleich Null sei die Reaktion gewesen. Als die 'Bild'-Aktion startete, hätten sich dann gleich am ersten Tag mehr als 50, teilweise sehr qualifizierte Leute beworben. Längst nicht alle hätten bis vor kurzem den blauen DDR-Paß gehabt. „Ich will tüchtige, ordentliche Leute“, versichert Fielmann noch einmal, „woher die kommen, ist mir egal.“

Ähnliche Reaktionen auch bei anderen Firmen, die in 'Bild‘ für Lohn, Brot und teilweise auch Wohnung warben. Egal ob die Dachdeckerfirma in Schwäbisch-Gmünd, das Speditionsunternehmen im hessischen Kelsterbach oder die Maschinenfabrik in Bielefeld: „Wir suchen schon so lange, wir nehmen jeden, ob aus der DDR oder nicht“, heißt die einmütige Antwort. Genauso liest sich das auch in den Unterlagen der bayerischen Arbeitsämter. Von den rund 8.000 offenen Stellen, mit denen im vergangenen Monat in den Zeltstädten von Passau und Umgebung hausieren gegangen wurde, waren fast alle schon lange den Arbeitsämtern bekannt - nur sie konnten nicht mit entsprechenden BewerberInnen besetzt werden.

Ein durch die DDR-Übersiedler plötzlich offenbar gewordener chronischer Arbeitskräftemangel bei 2 Millionen registrierten Arbeitslosen? Nein, das sei kein Widerspruch, begründet das Landesarbeitsamt Nordrhein-Westfalen in einer ausführlichen Stellungnahme. Hauptgrund für die große Nachfrage nach den Neuankömmlingen sei die „ausgezeichnete Verfassung der Wirtschaft“. In vielen Branchen sei der Bedarf an Arbeitskräften so groß wie schon lange nicht mehr. Besonders in der Baubranche, die noch vor wenigen Jahren über Massenentlassungen und Kurzarbeit klagte, herrscht wieder Konjunktur, und qualifizierte Fachkräfte sind rar. Dank der geburtenschwachen Jahrgänge ist auch die Jugenarbeitslosigkeit kein Thema mehr, zumindestens nicht für diejenigen, die es schaffen, eine Fachausbildung zu absolvieren.

Angesichts eines allgemeinen Arbeitskräftemangels in einigen Bereichen und Regionen haben die übersiedler aus der DDR noch ein vierfaches Plus, das sie für Arbeitgeber attraktiv macht: Viele von ihnen haben eine gute Facharbeiter- oder Handwerkerausbildung hinter sich, sie sind vorerst nicht an einen Wohnort gebunden, flexibler als andere Arbeitslose und mobiler auch als beispielsweise die Aussiedler aus Polen oder der UdSSR, die häufig mit ihren Familien kommen. DDR-Ausreiser gelten - vorerst zumindest als „hochgradig arbeitsmotiviert“ und sind im „besten Arbeitsalter“. Mit ihrer „Zuversicht und ihrem Tatendrang“, so formulierte es vergangene Woche Arbeitsminister Blüm mit einem kräftigen Seitenhieb auf die 2 Millionen Arbeitslosen, seien die DDR-Übersiedler „eine Mentalitätshilfe gegen die Gesinnung der Hängemattengesellschaft“.

Bei der IG-Metall fürchtet man eher, daß die DDR -übersiedler „zum billigen Jakob“ für die Unternehemer werden könnten. Das Stichwort von der „billigen Reservearmee“ geht wieder um. Noch, so versichert der DGB -Bundesvorsitzende Breit, „gibt es keine Hinweise dafür, daß Arbeitgeber die Situation der Aussiedler rücksichtslos ausnutzen würden“. Dennoch sehen auch die Gewerkschaften die Gefahr, daß zunehmend verschiedene Gruppen von Arbeitnehmern gegeneinander ausgespielt werden. Und auch bei der Bundesanstalt für Arbeit fürchtet man, daß einige Arbeitslose wohl nicht ganz zu unrecht verbittert beobachten, daß jetzt die Jungen und Mobilen „von drüben“ umworben werden, während sie teilweise schon seit Jahren auf einen Job warten.

Vor allem in den handwerklichen Branchen gibt es zur Zeit noch keine direkte Konkurrenzsituation zwischen den „alteingesessenen“ Arbeitslosen und den Neuankömmlingen. Dennoch ist schon jetzt absehbar, daß ganze Gruppen von Arbeitslosen auf der Strecke bleiben werden. Vor allem die über 600.000 Langzeitarbeitslosen werden angesichts der Zuwanderung aus dem Osten noch schwerer zu vermitteln sein als bisher. Und jetzt, wo die Fachkräfte praktisch auf der Straße stehen, brauchen die Firmen auch keine Qualifizierungs- und Einarbeitungsanstrengungen mehr zu unternehmen.

Daneben werden auch zwei andere Gruppen das Nachsehen haben: bei Frauen wird die Arbeitslosenrate weiter steigen, denn auch in dem florierenden Stellenmarkt für Aus- und Übersiedler tauchen sie so gut wie gar nicht auf. Gesucht werden Facharbeiter in den klassischen Männerberufen, und wenn von guten Arbeitsmarktchancen für Aus- und Übersiedler die Rede ist, dann muß man in Klammern immer ein „männlich“ dahintersetzen. Auch für AusländerInnen bringt die unerwartete Zuwanderung aus der DDR veränderte Perspektiven.

Noch vor wenigen Monaten hatten ausgerechnet industrienahe Wirtschaftsexperten der Diskussion um eine multikulturelle Gesellschaft einen neuen Akzent verliehen. Im Gegensatz zur offiziellen Linie der Bundesregierung dachten damals Wirtschaftskreise laut darüber nach, ob nicht angesichts des zunehmenden Arbeitskräftemangels die bundesdeutschen Grenzen wieder durchlässiger werden müßten und der Anwerbestopp für Ausländer aufgehoben werden sollte. Diese Diskussion wird nun wohl bis auf weiteres wieder in der Mottenkiste verschwinden.

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