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„Das Monopol ist schon vorbei“

■ Mit Andrzej Szczypiorski sprach am 1.September in Warschau Thomas Kornbichler

In den letzten Jahren, Monaten und Wochen ist in Polen einiges in Bewegung gekommen. Erstmals seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde in Polen ein Ministerpräsident gewählt, der nicht der kommunistischen Partei angehört. Was bedeutet das für Polen?

Ein politisches Erdbeben. Das bedeutet für den Ostblock ein politisches Erdbeben. Das bedeutet für ganz Europa ein politisches Erdbeben. Das ist eine evolutionäre Revolution. Das ist das Ende der kommunistischen Macht in Polen. Das ist eine Erosion dieser Macht im Ostblock. Wir haben eine ganz neue Periode in der polnischen Nachkriegsgeschichte angefangen, und das ist ein Durchbruch. Natürlich kann man sagen, daß die polnische kommunistische Partei schon seit Jahren nicht mehr existiert, weil das nur eine Organisation ist, eine sehr schwache Organisation, ohne Ideologie, ohne politische Programme, mit vielen Sünden und Schulden auf den Schultern. Trotzdem muß man sagen: Im Ostblock ist das eine große Änderung.

Das verbinde ich mit dem, was ich schon vorher gesagt habe: diese Tätigkeit der westdeutschen Politik im Ostblock. Wenn es uns nicht gelingen wird, diese riesengroße politische und ökonomische Reform durchzuführen, dann entsteht in Mitteleuropa eine politische Leere. Das wäre sehr, sehr gefährlich, auch für die Bundesrepublik, für ganz Europa. Eine Leere, eine politische, ökonomische Leere in Mitteleuropa ist gefährlich für den ganzen Kontinent. Und deswegen sehe ich die politische und ökonomische Tätigkeit Westdeutschlands in Polen auch als ein gutes Geschäft für Deutschland an. Und ich verstehe gar nicht, warum diese Staatsmänner in Bonn das nicht wissen. Ich bin kein Staatsmann, ich bin kein Mensch der Politik, ich bin nur ein...

Aber Sie sind jetzt immerhin im Senat.

Ja, gut, ich bin im Senat, gut, gut, schön. Aber von Beruf bin ich kein Politiker.

Was bedeutet es für Sie, jetzt im Senat zu sein? Was bedeuten diese Veränderungen für einen Schriftsteller wie Sie in Polen konkret? Ihr Buch „Die schöne Frau Seidenmann“ wurde jetzt erstmals offiziell veröffentlicht. Das sind doch Änderungen, die sich auch bei Ihnen ganz konkret auswirken.

Ja, das stimmt. Ich betrachte diese ganze politische Tätigkeit im Senat als sehr, sehr langweilig und oberflächlich. Die Politik ist immer flüchtig, die Kultur ist ewig. Die Politik geht vorbei. Heute haben wir einige Programme, morgen proklamieren wir, daß diese Programme ganz dumm waren, und wir bilden neue Programme. Die Politik ist eine Beschäftigung für die lahmen Menschen, für solche Menschen, die eine Stütze brauchen.

Konkret wäre aber Politik auch zu fassen im Sinne, daß man die Verhältnisse in der Gesellschaft und zu anderen Gesellschaften gestaltet. Das ist doch eine wichtige Aufgabe. Sehen Sie da jetzt neue Möglichkeiten in Polen?

Ja, ich sehe diese neuen Möglichkeiten. Und deswegen bin ich in diesem Senat. Als ich hörte, ich solle für den Senat kandidieren, war das für mich die sehr komplizierte Entscheidung, was wichtiger für mich ist: meine Literatur oder meine soziale Tätigkeit. Es war für mich eine komplizierte und sehr tiefe Frage, was wichtiger ist. Ich habe mich für die Politik entschieden, weil es meiner Meinung nach wichtiger ist, für die armen Leute, für die Kinder, für die Kranken und so weiter Verbesserung herbeizuführen als Literatur zu schreiben, weil die Literatur Literatur und die Wirklichkeit wichtiger ist. Sie ist meiner Meinung nach viel, viel wichtiger, weil es so viele arme Leute in Polen gibt. Es gibt so viel Elend in Polen. Es gibt so viel Unglück in Polen.

Ich hoffe, ich kann im Bereich der Wirklichkeit, des Alltags ein bißchen helfen. Eine große Reform des Unterrichts in Polen, eine große Reform des Gesundheitsdienstes, eine große Reform der Universitäten, eine große Reform der Polizei, der Armee stehen an. Die wichtigste Sache ist eine große Reform der Wirtschaft. Ich bin kein Spezialist auf dieser Ebene, weil ich kein Fachmann für die Ökonomie bin. Aber ich habe entschieden, vier Jahre als Senator zu arbeiten, weil wir große Möglichkeiten haben. Jetzt müssen wir diese Möglichkeiten im Namen des Volkes nutzen.

Sie haben angedeutet, daß die Politik nicht ganz so wichtig ist wie die Kultur, die den Kern der Gesellschaft ausmacht. Wie ist es um diese polnische Kultur bestellt, die ja im 20.Jahrhundert in arge Bedrängnis gekommen ist? Zwar gab es einmal die polnische Republik, aber dann kam der Nationalsozialismus, dann der Stalinismus. Wie ist es um diese polnische Kultur bestellt?

Das 20.Jahrhundert ist eine Epoche der totalitären Herausforderung in Europa. Wir, die polnische Gesellschaft, haben sehr unter dieser Herausforderung gelitten. Aber für die Kultur waren diese Zeiten nicht ganz schlecht, weil die Kultur, besonders die Literatur, immer ein Kampf ist. Wenn die Literatur nicht kämpft, entwickelt sie sich nicht gut. Da die Kunst immer ein Kampf ist, müssen wir kämpfen, nicht nur gegen die totalitäre Macht, wir müssen auch gegen den schlechten Geschmack der Leser, des Publikums kämpfen, wir müssen gegen unsere Feigheit und Faulheit kämpfen, wir müssen gegen unsere eigene Sprache kämpfen, weil die Literatur auch ein Kampf mit den Worten ist, weil die Worte die Wesen sind, diese Heinzelmännchen, mit denen wir immer kämpfen müssen.

Die Literatur braucht nicht nur die kreative Kraft, sondern auch Zivilcourage. Unter der kommunistischen Macht hatte die polnische Literatur sehr viele Möglichkeiten, sich zu entwickeln. Wir haben eine sehr gute Literatur, eine kämpfende, eine lebendige, eine tiefe, eine sehr, sehr wichtige Literatur. Schade, daß die polnische Literatur im Westen so unbekannt ist. Meiner Meinung nach ist das ein Verlust der westlichen leser. Ich bin ein scharfer Kritiker der westlichen Literatur - nicht der ganzen westlichen Literatur, es gibt viele Ausnahmen, in der Schweiz zum Beispiel Friedrich Dürrenmatt, der ist ein großer Schriftsteller, oder Frisch. Aber seit dem Tode von Albert Camus - das ist schon mehr als 30 Jahre her -, seit dieser Zeit erlebt beispielsweise die französische Literatur eine Krise, eine Krise der Kreativität. Für viele Intellektuelle im Westen ist die sogenannte realistische Literatur, also die Beschreibung der Wirklichkeit, eine unliterarische Beschäftigung. Die Intellektuellen betrachten solche Literatur mit Abscheu.

Dafür gibt es so viele Romane über das Schreiben eines Romans. Es gibt viele Romane über die Schlaflosigkeit des Schriftstellers. Da die Schlaflosigkeit an sich langweilig ist, ist auch ein Buch über die Schlaflosigkeit unglaublich langweilig. Es gibt viele formale Experimente, es gibt viele Spiele mit den Worten. Meiner Meinung nach ist das eine Sünde. Das ist schon eine Sünde angesichts der Kultur, weil uns das Wort gegeben ist, damit wir die Verständigung suchen und finden. Das Wort ist ein Mittel der Information, ein Mittel für die Verständigung zwischen den Menschen. Und wenn Sie mit den Worten spielen, verliert das Wort seine eigene Leidenschaft.

Offenbar argumentieren Sie jetzt gegen Ästhetizismus...

Natürlich gegen Ästhetizismus, selbstverständlich.

...und für eine ethische Verankerung von Literatur.

Stimmt, jawohl, jawohl. Die Literatur ist nicht nur eine ästhetische Sache, die Literatur ist eine ethische Sache. Das ist eine Sache der Moral, das ist eine Sache der Anwesenheit und Zusammenarbeit mit den Lesern. Jedes Buch ist soviele Male geschrieben, wie es gelesen wird. Jeder Leser, wenn er ein Buch liest, schreibt dieses Buch in seiner eigenen Einbildung und Weltanschauung neu - nicht nur mit seinem ästhetischen Geschmack, sondern mit seiner ethischen Weltanschauung. Deswegen ist das eine ethische Frage.

Sie haben Camus erwähnt: Sartre hat diese Gedanken, wie Sie sie jetzt vortragen, in „Was ist Literatur?“ formuliert...

Ja, meiner Meinung nach war er der größte Schriftsteller unserer Zeit.

Sie schreiben in Ihrem wunderbaren Roman „Die schöne Frau Seidenmann“ dramatisch - so mein Eindruck. Sind Sie ein dramatischer Schriftsteller?

Ja, Sie haben recht. In einer extremen Situation zeigen die Menschen den ganzen ethischen Reichtum ihrer Person - oder die ethische Leere. Nein, ich habe zuviel gesagt. Es gibt nie eine ethische Leere. Immer gibt es die Ethik, sie ist immer anwesend. Sie kann krank sein, es gibt kranke Ethik. In diesem Buch habe ich einen SS-Mann geschildert: Stuckler. Er ist paradoxal, aber er ist auch ein ethischer Mensch. Doch seine ethische Wahrnehmung ist krank. Das ist eine ethische Krankheit, das ist eine moralische Krankheit. Aber man kann nicht sagen, daß er ganz leer ist. Nein: Er ist voll, voll von kleinbürgerlicher Dummheit. Er ist voll von Hass, auch von vielen Illusionen. Aus der falschen Einbildung entsteht auch eine Ethik. Man kann nicht sagen, daß die Verbrecher im Kriege ganz leer waren. Das ist zu einfach. Wenn sie leer gewesen wären, wären sie ganz unkompliziert gewesen. Eine Leere und nichts mehr. Nein: Sie waren voll, ganz voll. Und es ist unsagbar interessant, was in diesen Menschen steckte.

Sie sind jetzt in der Politik engagiert. Bleibt Ihnen noch Zeit zum Schreiben? Verfolgen Sie ein literarisches Projekt?

Die Hauptsache meines Lebens ist meine literarische Arbeit. Ich schreibe immer. Jetzt schreibe ich ein bißchen weniger als vorher. Trotzdem schreibe ich. Ich schreibe einen Roman. Ich bin ein monothematischer Schriftsteller. Ich schreibe immer über dieselbe Sache. Über diese totalitäre Herausforderung, über eine menschliche Person, die von der Geschichte zermalmt worden ist, zerwalzt. Die Geschichte ist wie ein Bulldozer. Sie zerstört die Menschen. Vom historischen Gesichtspunkt her bin ich ein Pessimist. Doch ich muß es so sagen: Die Geschichte ist ein Gespenst, ein Monster, sie frißt uns. Aber es ist sehr wichtig, ob ich als eine Person, als die menschliche Person, ein Genuß für dieses Monster bin oder ein Knochen in der Kehle. Das ist die Frage der menschlichen Würde, das ist die Frage der menschlichen Tätigkeit, das ist die Frage der menschlichen Kraft und des menschlichen Kampfes für die Werte, gegen die wirklichen Bedingungen des gesellschaftlichen, des politischen Lebens.

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