: Feiern in der Provinz
Schon eine halbe Autostunde von der „Hauptstadt“ entfernt, kommen die Nachrichten aus Ost-Berlin, Leipzig oder Dresden wie aus einer andern Welt. Hier in den Dörfern und Kleinstädten der DDR wird das Jubiläum „unseres sozialistischen Vaterlandes“ nach den Regeln der alten Normalität gefeiert. Im flaggenbehängten Neuruppin zum Beispiel, einer 20.000-Einwohner-Stadt wie viele andere auch, beginnt der Feiertag mit der Kranzniederlegungszeremonie am OdF-Platz, wie der Platz für die Opfer des Faschismus in DDR-Kürzelsprache heißt.
Tagesordnungspunkt Nummer zwei: feierliche „Bäumchenpflanzaktion“ - die 34. übrigens ihrer Art, zum Staatsgeburtstag diesmal in der Rosa-Luxemburg-Straße. Mit Dschingderassabum ziehen rund hundert Leute durch die nun bäumchengeehrte Straße, die gerade so breit ist, daß zwei Trabbis aneinander vorbei kommen. Doch bevor dort frischvermählte und schon 40 Jahre verheiratete Brautpaare zum Spaten greifen, wird die feierliche Begrüßung durch den Bezirkssekretär der SED absolviert. Verhaltener Applaus für die - uniformierten - ausländischen Delegationen aus der Volksrepublik und der Sowjetunion; Bekräftigung, daß der Sozialismus - „auch wenn einige das nicht glauben wollen“ Hervorragendes geleistet hat und die „imperialistischen Kräfte aus der BRD“ sich kräftig getäuscht haben, wenn sie den Untergang des Sozialismus herbeireden. Der Gesamtkindergarten Neuruppin preist die „helle Sonne“ am regentrüben Himmel und atemlos-aufgeregte Kinderstimmchen hauchen ein „Wir tanzen und singen und sind so froh“ ins Mikrophon.
Wem an diesem Tag in Neuruppin zum Feiern zumute ist oder wer vielleicht einfach nur Abwechslung sucht, besucht danach das offizielle Festprogramm auf dem Käthe-Kollwitz-Platz, einer huckeligen, zugigen Wiese am Stadtrand, gleich neben dem Holzkombinat. Hier werden keine großen Reden gehalten, hier, so ein älterer Herr, „findet Volksbelustigung statt“. Das Volk jedoch ist an diesem Feiertag nur spärlich vertreten. Auf dem weiträumigen Kollwitz-Platz verlieren sich die Gäste in kleinen Gruppen. Das große Festzelt ist nur zu knapp einem Drittel gefüllt, als eine Dixieland-Band spielt, und die Kindermodenschau mit den neuesten Kreationen des Textilkombinats wird wegen Nieselwetters und Zuschauerschwunds vorzeitig abgebrochen. Bis zur Mittagszeit sind an den Verkaufsständen immerhin reichlich Rauchwürste und Biere über den Tisch gegangen, und auf der kleinen Freilichtbühne ernten zwei Kampfsportler tröpfelnden Beifall für die Handkantenschläge durch Dachziegel, die ansonsten in der Stadt Mangelware sind.
Hier braucht man auch keine Polizei, um den Ablauf der offiziellen Feierlichkeiten zu sichern, denn möglicher Unmut oder gar Protest äußert sich hier in den normalen, verhaltenen Formen: Daß „die in Ost-Berlin für ihre Jubelfeier Millionen verbraten und wir hier noch zwei Mark Eintritt zahlen müssen“, beschwert sich ein Festbesucher. Und ein anderer wirft einem Entgegenkommenden zum Republikgeburtstag ein süffisant grinsendes „Herzlichen Glückwunsch!“ zu. Dafür erntet er zwar von seiner Frau einen Ellenbogenstoß und ein zugezischtes „Laß das doch endlich!“, worauf er zurücktrotzt: „Hab‘ doch nichts Schlimmes gesagt!“ Nur an der Kirchentür deutet ein großplakatierter Anschlag darauf hin, daß auch in Neuruppin mehr passiert als an diesem Tag sicht- und hörbar wird. Unter dem nichtssagenden Titel, den offenbar aber jeder versteht, ist in der Kirche für Dienstag abend eine Veranstaltung angesetzt: „Informationen zur Lage, Gedankenaustausch“.
Jenny Marx
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