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Gorbatschow zu Hause: Reformen her

■ Nach der Jubiläumsfeier zum 40. Jahrestag betont der Kremlchef die Notwendigkeit von Veränderungen in der DDR / Große Demonstrationen im ganzen Land / Mehr als tausend Festnahmen / Brutale Knüppeleinsätze der Polizei / Grenzen immer noch dicht

Ost-Berlin (taz/dpa/ap) - Reformen müssen sein - auch in der DDR. So deutliche Töne schlug der sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow an, kaum daß er am Samstag von der Jubelfeier zur DDR-Staatsgründung nach Moskau zurückgekehrt war. In Ost-Berlin hatte er sich noch wesentlich zurückhaltender geäußert und den Dissens zu Erich Honeckers Politik diplomatisch verbrämt. Dieser hatte in seiner Rede zum 40. Jahrestag allen Reformen eine Absage erteilt. Gleichzeitig kam es in den Straßen des Arbeiter und Bauernstaates zu Massendemonstrationen und brutalen Polizeieinsätzen.

Im sowjetischen Fernsehen unterstrich der Kremlchef, die tiefgreifenden Veränderungen des Sozialismus hätten im Zentrum seiner Gespräche in Ost-Berlin gestanden. Anläßlich der Bilanzierung von 40 Jahren DDR fragten sich die Leute jetzt, „was sich ändern soll: nicht nur in der Wirtschaft und in der sozialen Sphäre, sondern auch bei den politischen Institutionen“.

Gorbatschow distanzierte sich damit von den öffentlichen Äußerungen Honeckers, der sowohl in seiner programmatischen Rede zum Gründungsjubiläum am Freitag als auch in dem zweistündigen Gespräch mit Gorbatschow am Samstag Veränderungen in Richtung mehr bürgerlicher Demokratie abgelehnt hatte. In dem Gespräch betonte Honecker laut der amtlichen DDR-Nachrichtenagentur 'adn‘, Hoffnungen bürgerlicher Politiker und Ideologen, die auf Reformen hin zum Kapitalismus setzten, seien auf Sand gebaut.

Auch die DDR-Sicherheitskräfte zeigten überdeutlich ihre Ablehnung demokratischer Rechte. Am Jahrestag der Staatsgründung gingen siemit großer Härte gegen Tausende von DemonstrantInnen vor. Volkspolizei, Staatssicherheit und Militär lösten am Wochenende Demonstrationen in Ost-Berlin, Leipzig, Dresden, Plauen, Jena und Potsdam gewaltsam auf. Nach Augenzeugenberichten gab es zahlreiche Verletzte und weit über 1.000 Festnahmen. In Ost-Berlin waren die Gefängnisse nach Angaben von Augenzeugen in der Nacht zu Sonntag überfüllt.

Für die DDR-Führung sind die Demonstrationen nichts als „Störungen“ von „Randalierern“. Die Nachrichtenagentur 'adn‘ schrieb gestern, die „Randalierer“ in Ost-Berlin hätten versucht, die Volksfeste zum 40. Jahrestag der Staatsgründung zu stören: „Im Zusammenspiel mit westlichen Medien rotteten sie sich am Alexanderplatz und Umgebung zusammen und riefen republikfeindliche Parolen.“

Westlichen Journalisten ging es in Ost-Berlin nicht besser als anderen DemonstrantInnen. Die Staatssicherheit versuchte'sie vom Ort der Demonstrationen fernzuhalten. Mehrere Fotografen und Wortberichterstatter wurden verprügelt, ins Gesicht getreten und zum Teil festgenommen und in der Nacht nach West-Berlin abgeschoben.

Die offiziellen Feierlichkeiten zum 40jährigen DDR-Jubiläum sind zwar seit gestern vorbei. Trotzdem blieb Ost-Berlin für West-Touristen gesperrt. Die innerstädtischen Übergänge konnten nach wie vor nicht passiert werden. Tausende wurden seit Schließung der Grenzen am Donnerstag zurückgeschickt. Am Sonntag wurden 450 gemeldet.

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