: KUNSTMALERLUSTKRAMEN
■ Andre Thomkins „labyrinthspiel“ in der Akademie der Künste
Überall öffneten sich für Andre Thomkins geheime Tapetentüren in eine andere Welt, und er war Meister im Entdecken der Ritzen und Löcher im scheinbar festen Gefüge der Realität. Zeichnend kam er überall hindurch, indem er einfach die schon vorhandenen Linien als Fluchtbahnen interpretierte und ins Imaginäre hinein verlängerte. Als Sprachartist war er nie um geheime Passworte verlegen. Zur Not wechselte er die Kulisse akustisch und entlockte dem Feuerholz neben dem Küchenofen eine Musik zum Tanz im Bambusrock.
Das Bild eines unermüdlichen Spielers, Bastlers und Tüftlers vermittelt die Retrospektive „labyrinthspiel“, die die Akademie der Künste dem Schweizer Andre Thomkins gewidmet hat. Thomkins, der Mitglied der Akademie gewesen war, starb 1985 an Herzversagen, erst 55 Jahre alt. Seitdem bestand an der Akademie der Plan einer Hommage und Ausstellung, um Thomkins über einen Insider-Kreis von Künstlern, Galeristen und Freunden hinaus bekannt zu machen. Das Begleitprogramm mit Konzerten und Lesungen würdigt die Sprachkunst und Musik Thomkins‘, dessen Xylophone aus Brennholz jeder selbst ausprobieren kann. Thomkins hat keine als große Werke zu erklärenden Arbeiten hinterlassen, sondern einen Wust von gezeichnetem und geschriebenem Kleinkram.
Emailierte Straßenschilder signalisieren den Eintritt in Thomkinsches Territorium: „reflexelfer“, „oh cet cho!“, „nee, die ideen“. Stutzen, Verblüffung... das läßt sich vorwärts und rückwärts lesen! Thomkins war ein großer Erfinder von Rücklingen, gelehrt Palindrome genannt, und er selbst nannte sich einen „retroworter“. Seine Briefwechsel mit Karlheinz Caspari, Daniel Spoerri und die Sprachspiele, die er mit Karl Gerstner und Spoerri herausgab, belegen seine Zugehörigkeit zu einer geheimen Gemeinde, die auf die magische Kraft der Buchstaben vertraut. Sinn zu produzieren, wird dem Spiel der Lettern überlassen. „legislativ.vitalsigel“ verrät den Stillstand des Lebendigen in der Starre des Gesetzes. „nie reime, da kann akademie rein“ wirkt wie eine ironische Vorausahnung über die schließliche Ankunft der Späße in der Akademie und „Strategy: Get Arts“ läßt sich als Kommentar zu einer als Imagepflege mißbrauchten Kunst lesen.
Auch in seinen Anagrammen setzt Thomkins auf die Eigendynamik der Sprache. Aus dem anscheinend bloß mechanischen Spiel der Vertauschung werden bei Thomkins Kombinationen, die immer neue Assoziationen und Konotationen hervorbringen. Unübertroffen griffig die Analyse: „Kunst / Stunk“. Differenzierter schon im Nachdenken über die Motive des Künstlers: „Kunstmaler / Lustkramen / Samenkurtl / Artmuskeln / Museltrunk“. Daß er sich mit seiner Sprachartistik nicht als Dichter verstand, lag sicher an der untauglichen Buchstabengruppe des Wortes Dichtung: „Dichtung / nichd gut / gud, nicht? / dutchgin / und gicht / tuchding“.
Thomkins brütete. Andere Künstler inszenieren sich in der Geste des Schöpfers, er hingegen brütete seine Wortspiele und Zeichnungen aus, er wartete, bis die Linien ihm ihre Ausdrucksmöglichkeiten verrieten. „4 mal ausgebrütetes Papier“ betitelte er 1958 ein Blatt mit kleinen Skizzen, denn jedes Stück Papier kann irgendwann Grundlage eines Bildes werden.
In den Linienzeichnungen des Marmors oder den Mustern von Tapeten kann jeder leicht Figuren entdecken, gerade dann, wenn man nicht scharf hinsieht, sondern den Blick leicht verschwimmen läßt. Aus diesem Spiel entwickelte Thomkins eine Technik der visuellen Assoziation, die „Rapportmuster“. Er warf erst ein Netz linearer Ornamente auf das Papier und ließ dann in die Nischen und Winkel Figuren einziehen, die sich den Formen anpaßten. Mit altmeisterlichem Strich gezeichnet tauchen Figuren aus ihren Verstecken auf, zwängen sich Katzen durch ein enges Gitter, öffnen sich weite Landschaften hinter kleinen Fensterchen, schmiegen sich weibliche Körper an das Ornament, erscheinen Masken, Schießbudenfiguren und Ausschnitte aus Genre-Szenen in den Segmenten. Das Ornament wird zur Erzählmaschine, zum sprunghaften Fabulierer, zum Fangnetz disparater Erinnerungen. Flächen und Räume changieren: Der gleiche Federstrich, der für das eine Bildsegment die Umrißlinie einer Figur bedeutet, hat für das anliegende Segment die Funktion einer Fluchtlinie in die Landschaft. Perspektivische Taschenspieler-Tricks. Diese Atomisierung der Bildwelt ist nicht aggressiv wie die dadaistische Zersplitterung. Thomkins verfügt über die Kunstgeschichte wie Kinder über ihren persönlichen Schatz aus Haferflockenbildchen. Die Vexierbilder geben Rätsel auf, jede Form bleibt mehrfach lesbar. Im ungelösten Rest der Rätsel bleibt die Sehnsucht nach einer geheimnisvollen Bedeutung und Spiritualität wach, die durch einen Trick ihrer gewiß enttäuschend ausfallenden Offenbarung Mal wieder glücklich entronnen ist.
Die Akademie zeigt Thomkins kleine Arbeiten in einem Labyrinth aus kleinen Kabinetten. Ähnlich wie in den „Rapportmustern“ baut er auch in Miniaturen und Kartonintarsien seine Welten auf. Aus einer Werbeanzeige mit gymnastischen Übungen für die ganze Familie entwickelt er eine Serie von „Permanentszenen“ (Teilnehmer: pre, ma, nente und das kleine Mädchen szene) und entfaltet eine unzusammenhängende Reihe dramatischer Höhepunkte einer unbekannten Familientragödie, die er manchmal nur noch in spannungsgeladenen Raumbildern abstrahiert andeutet. In geschwungenen Federzeichnungen, Geschicklichkeitsübungen eines barocken Manieristen, konstruiert er mit einer scheinbar ununterbrochenen Linie komplizierte Körper, in denen sich der Raum umstülpt und selbst verschlingt, in denen Löcher zu Volumen werden und Vorder- und Hintergrund in ein verwirrendes Pulsieren geraten. In der kunstgewerblich harmlos daherkommenden Serie der „sägler und nagler“ von 1969 mit Konstruktionszeichnungen von Möbeln wiederholt er eine ähnlich katastrophale Außerkraftsetzung der räumlichen Wahrnehmung.
Aus der Küche entkamen 1955 die bemalten Kellen- und Löffelfiguren, und 1971, eine minimalistische Ausnahme unter Thomkins‘ Produktionen, ein „Mit Spaghetti genudelter Makkaroni“. In der Küche war er wahrscheinlich auch auf das Ei gestoßen, dem er 1958 einen Knopf aufnähte, was für seine Kunst-Produktion große Folgen hatte: „Es bestand am 18. September 1958 die Wahrscheinlichkeit, daß eine Begegnung von Knopf und Ei niemals zuvor stattgefunden habe. Der Grad dieser Wahrscheinlichkeit war mein Anlaß zu dem Schneiderkunststück, und obwohl das Nähen die 'fadenscheinigste‘ Form der Annäherung ist, scheint es darum nicht weniger naheliegend“, notierte Thomkins. Dies klingt nach einer gesuchten Unwahrscheinlichkeit, die übrigens an Unwahrscheinlichkeit durch die Begegnung eines Regenschirms und einer Nähmaschine auf einem Seziertisch noch zu übertreffen sei. Zehn Jahre später porträtierte Thomkins sein „Knopfei“ als „oTTo“: der Knopf sitzt dem Eierkopf als Hut schief auf der Stirn, er blickt aus Knopfpupillen und aus einem der Löcher im linken Knopfauge stürzt eine kleine Gestalt heraus. Die Knopfpupillen sitzen in O-förmigen Augen, dazwischen rahmen zwei TTs den Platz der Nase, sodaß oTTo sein Name ins Gesicht geschrieben steht. Zwischen den TTs aber öffnet sich anstelle der Nase eine Landschaft und auf ihnen hat als Augenbrauenpaar ein Vogel sein Nest gebaut. Für die Nasenlöcher hat Thomkins einen Brunnen hingesetzt, in dem eine Frau badet. In diesen Brunnen stürzt die Figur aus dem Knopfauge und an diesem Brunnen breche ich die Beschreibung der 25,6 x 18,7 cm großen Zeichnung vorsichtshalber ab, bevor sie zum Roman gerät. Mit der Knopfei-Skulptur hatte sich Thomkins eine Keimzelle geschaffen, aus der er nun weitere Formspiele sich entwickeln ließ. Es entstand die Serie der „shadowbuttoneggs“, eine Kette ständiger Metamorphosen aus dem Schatten des Knopfeis, die als tintig-schwarze fliegende Untertassen über die Papiere segeln.
Ölbilder waren nicht seine Stärke. Während seinen Künstlerkollegen die Formate in die Höhe und in die Breite schossen, paßten Thomkins‘ Bilder immer noch auf einen Cafehaustisch. Zur Zeit des Action-Painting malte er ein Jahr lang an seinem „Mühlenbild“ in Öl, in dem lauter Mikrokosmen nebeneinander schweben, zu deren Betrachtung man mit einer Lupe und Engelsgeduld ausgerüstet sein müßte. Doch eine besondere Methode, um mit Farbflächen zu experimentieren, entwickelte er aus Lacken: Lacke, die in einem mit Wasser gefüllten Behälter auf der Oberfläche schwimmen, fließen ineinander, überdecken sich, aber mischen sich nicht. Mit Papier werden die Bilder aus dem Hexenkessel gefischt. Die Lackskins von fast alchemischer Herkunft bleiben Momentaufnahmen eines Entstehungsprozesses: sie könnten Illustrationen zu Zellteilungen, Strömungen der Elemente, Magmaflüssen, Erdschichten und atmosphärische Schwankungen im Weltraum sein. Vage Erinnerungen an die Kosmosheftchen und an Kubricks All-Visionen in „Odysee 2001“ werden lebendig.
Aus den Lackskins liest man noch am ehesten eine Verwandtschaft zur Popkultur, zu stilisierten Rauscherlebnissen und der Weltraum-Euphorie der sechziger und siebziger Jahre ab. Sonst aber lag Thomkins quer zu den Kunstströmungen seiner Zeit. Er kam ohne die Beanspruchung von Wichtigkeit, Aufklärung, Protest und Aktualität aus. In seinen Briefen und Schriften, aus denen die Autoren des Katalogs zitieren, teilt er fast immer Wünsche und Phantasien mit, redet in der Möglichkeitsform. Sein realer Ort wird ungreifbar, seine Kosmen treiben schwerelos aus einem Vakuum auf uns zu. Der Künstler verschwindet im verschlungenen Ornament seiner Arbeiten.
Katrin Bettina Müller
„labyrinthspiel“ Andre Thomkins Retrospektive bis zum 3.12. in der Akademie der Künste. Der zweibändige Katalog kostet 48 Mark.
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