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Ost-Timor: Die vergessene Tragödie

Dreizehn Jahre nach dem indonesischen Überfall darf die ehemalige portugiesische Kolonie Ost-Timor jetzt wieder von Touristen bereist werden / Noch immer bestimmt das Militär den Alltag der Insel / Heute besucht Papst Johannes Paul II. die Insel / Protest gegen die Menschenrechtsverletzungen erwartet  ■  Aus Dili Brigitte Mattans

„Ihr seid schön!“ sagt die dunkelhäutige Frau mit breitem Lächeln, das den Blick auf ihre rostrot gefärbten Zähne freigibt. Nachdem sie die Betelnuß in die andere Backe geschoben hat, fährt sie erklärend fort: „Die Augen. So blau!“ und spuckt den roten Betelsaft in den Sand. „Ihr kommt aus Deutschland? - Ist das nah an Java? - Welche Sprache sprecht Ihr? Portugiesisch?“

Für die Leute in dem kleinen Dorf an der Nordküste Ost -Timors sind Fremde ein ungewohnter Anblick. Das länger als eine Dekade von der Außenwelt abgeriegelte Land öffnete seine Grenzen erstmals wieder im Januar dieses Jahres. Europa ist für die Ost-Timoresen ein Synonym für Portugal, das fast fünfhundert Jahre ihre Geschichte geformt hat. Und dieses Portugal ist weit weg. Mindestens so weit weg wie Java, Nabel des zentralistisch regierten Inselreiches Indonesien - das Land, zu dem Ost-Timor seit dreizehn Jahren gehört.

Die jüngste indonesische Provinz ist nach den Schlagzeilen, die sie Mitte der siebziger Jahre weltweit machte, wieder aus dem Bewußtsein der Weltöffentlichkeit verschwunden. Ein Aschenputtel-Dasein kennzeichnet das karge und an Bodenschätzen arme Land seit Beginn der Kolonialisierung im 16.Jahrhundert. Portugiesische Missionare waren die Vorhut.

Hundert Jahre später meldeten auch die Holländer Ansprüche an und stritten sich mit den Portugiesen um die Vormachtstellung im lukrativen Sandelholzhandel. Holland trug den Sieg davon, und Portugal zog sich auf den östlichen Teil der Insel zurück. Der blieb bis zu eben jenen blutigen Ereignissen vor 13 Jahren eine Kolonie Lissabons aus einem einzigen Grund: Niemand anders wollte die des Sandelholzes und damit ihres einzigen Reichtums beraubte ärmliche Provinz haben - auch nicht Indonesien, dessen Unabhängigkeit 1945 proklamiert worden war.

Den Portugiesen lag wenig an der abgelegenen Provinz. Von Interesse waren höchstens die bescheidenen, aber hochwertigen Kaffeelieferungen und die Eignung der Insel als Exil für „unerwünschte Elemente“. Anders als in Niederländisch-Indien blieben die vorhandenen gesellschaftlichen und politischen Strukturen der Kolonialzeit in Ost-Timor erhalten. Mit allen Nachteilen: 90 Prozent der Timoresen waren aufgrund der portugiesischen Versäumnisse noch nach dem Zweiten Weltkrieg Analphabeten, es fehlte an Straßen, Schulen und Krankenhäusern.

Nach dem Bürgerkrieg marschierte Indonesien

Als Portugal nach dem Sturz der Diktatur in Lissabon 1974 den ausgetretenen kolonialen Schuh abstreifen wollte, wendete sich das Blatt der Geschichte zur Tragödie. Der Versuch timoresischer Selbstbestimmung scheiterte in seinen Anfängen, als sich in der Kolonie zwei neue politische Gruppierungen gegen eine dritte zusammenschlossen: Gemeinsam kämpften diejenigen, die den Verbleib bei Portugal forderten, und die Gruppe, die den Anschluß an Indonesien favorisierte, in einem Bürgerkrieg gegen die Fretelin (Frente Revolutionaria do Timor Leste Indepente), die „Revolutionäre Front für ein unabhängiges Ost-Timor“. Das war im August 1975. Am 28.November desselben Jahres rief die Fretelin die Demokratische Republik Ost-Timor aus. Nur neun Tage später mußten sie den neugeborenen Staat gegen die einmarschierenden indonesischen Truppen verteidigen.

In Indonesien selbst wurde der Einmarsch über Wochen dementiert; zweimal mahnte der Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen zum Rückzug, womit der Regierung Soeharto vor aller Welt die Verletzung des Völkerrechts bescheinigt wurde. In Jakarta jedoch überwog die Angst vor den „Linken“

-und damit verbunden die Möglichkeit weiterer separatistischer Aktivitäten in anderen Teilen Indonesiens. Um die kommunistischen Tendenzen so nah vor der eigenen Haustür im Keim ersticken zu können, wurde Ost-Timor trotz des heftigen Widerstandes der von Francisco Xavier do Amaral geführten Fretelin am 16. Juli 1976 annektiert und zur 27. Provinz Indonesiens ausgerufen.

Doch die Kämpfe gingen weiter. Die Jahre 1976/77 gehören zu den blutigsten der ost-timoresischen Geschichte. Schätzungsweise 160.000 Menschen, ein Fünftel der Bevölkerung, kamen damals um. Sie starben im Guerillakrieg oder durch Mord, Folter, Krankheit und Hunger in den von den Indonesiern für die Sympathisanten der Fretelin eingerichteten Internierungslagern. Bis 1982 standen Ost -Timor und Indonesiens Annexion in der jährlichen UN -Vollversammlung zur Diskussion und brachten der Regierung Soeharto jedes Mal Minuspunkte ein; danach geriet das Thema langsam in Vergessenheit.

Die Timoresen werden nicht so schnell vergessen können. Zu kurz liegen die Ereignisse zurück, zu tief sind die Wunden, zu zahlreich die Toten. Ruhe ist bis heute nicht eingekehrt in der gebeutelten Provinz. Berichte über die Ausschreitungen gegenüber der Bevölkerung vor allem im Süden und die massive Präsenz des Militärs lassen vermuten, daß noch immer scharf geschossen wird. „Es ist nicht mehr die Hölle, so wie es einmal die Hölle war“, sagt ein Vertreter des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK), die derzeit einzige internationale Organisation in Ost-Timor, die 1979 ihre Arbeit aufnehmen durfte. „Aber es kommt wieder gehäuft zu Übergriffen gegen die Zivilbevölkerung.“

„Dieses Land

braucht Zeugen“

Trotzdem können nun seit 1976 erstmals wieder Touristen die Insel bereisen. Wenige haben von dieser Möglichkeit bisher Gebrauch gemacht. „Dabei“, so ein Vertreter des IKRK, „sollten soviele Besucher wie möglich kommen, sollten Tausende das Land überschwemmen; das wäre das einzige wirksame Mittel, das Militär zu kontrollieren. Dieses Land braucht Zeugen. Es braucht Kontakt. Es war dreizehn lange Jahre von der Außenwelt abgeschnitten und ist durch die Hölle gegangen...“

Nur langsam erwacht Ost-Timor und seine Metropole aus dem Dornröschenschlaf: Die Hektik der modernen Zeit hat hier noch nicht Fuß gefaßt. In der Inselhauptstadt Dili erinnern zerfallene Villen, breit angelegte Alleen, zahlreiche Kirchen und eine übergroße Marienstatue auf der „Placa Municipal“ an die portugiesische Vergangenheit. Es gibt nur wenige Autos. Im Stadtzentrum sind lediglich ein paar blaue Taxis unterwegs. Nur im 50-Kilometer-Umkreis von Dili ist die Küstenstraße geteert - weiter scheint der Arm der Bürokratie nicht zu reichen.

Panzerwracks erzählen

von der Vergangenheit

Unser Ziel ist die Inselspitze im äußersten Osten. Die Straße windet sich durch karge, trockene Ebenen, die mit gelbbraunem oder stumpfgrünem Steppengras, niedrigem Buschwerk oder stachligen Palmen bewachsen sind. Dazwischen flache oder schroffe Küstenabschnitte mit Ausblicken auf unendliche Strände und türkisblaues Wasser, magere Ziegen, Wasserbüffelherden; verstreut einige palmfasergedeckte Rundhütten.

Nur selten begegnen uns Menschen: dunkelhäutig, mit krausem, schwarzem Haar, die Männer oft mit verblichenen Tarnhemden aus der Zeit des Bürgerkriegs bekleidet. Sie kommen nach einem langen Tag von der Feldarbeit zurück oder vom Markt, wo sie winzige Tomaten oder ein paar Stengel Grüngemüse verkauft haben.

Verrostete Panzerwracks und ausgeschlachtete Jeeps am Straßenrand erzählen von der jüngsten Vergangenheit: Das Militär ist allgegenwärtig. Je weiter wir uns Baucau nähern, desto häufiger werden wir von Lastwagen mit Soldaten überholt. Baucau, die erste größere Stadt, 120 Kilometer nordöstlich von Dili, ist Militärhauptquartier und Knotenpunkt für die Verbindung zum Süden. Soldaten bestimmen das Stadtbild. Sie sitzen in den Restaurants und essen ihr mittägliches mie bakso oder nasi goreng, schlendern über den großen Marktplatz und haben das einzige Hotel der Stadt belegt. Die Soldaten aus West-Timor, Java, Lombok und Bali, die im östlichen Inselteil stationiert wurden, sind hier unbeliebt.

Für Touristen

noch nicht freigegeben

Armeekontrollen im Abstand von etwa fünf Kilometern gehören im Lauf unserer Reise zum gewohnten Bild. Aber keiner der Wachtposten fragt nach dem surat jalan, dem Polizeischreiben aus der Hauptstadt Dili. Das müssen wir nur bei den Orts- und Distriktkommandaturen vorlegen, die auf unserem Weg liegen.

Je näher die Ostspitze der Insel rückt, desto markanter wird der Landschaftswechsel: Aus dem Dunst tauchen blaßgraue Berge auf, es wird grün und merklich kühler. Ein Friedhof: Die letzten Schaufeln Erde fallen auf das frisch ausgehobene Grab. An den Steinkreuzen - viele noch mit portugiesischen Inschriften - baumeln Büffelschädel: Sinnbild animistisch -christlicher Symbiose.

Tutula; unser Ziel und Wendepunkt nach insgesamt zweihundert Kilometern. Die Kommandatur ist in einer ehemaligen portugiesischen Villa auf einer Hügelkuppe oberhalb des Meeres untergebracht. Im Dörfchen Com dann inspiziert der herbeigerufene kepala desa unsere Reisepapiere. Der Militärchef sei beim Fischen, sagen die Leute, die uns lachend und staunend umringen. Das Dorfoberhaupt gibt uns nach kurzer Beratung mit den anderen zu verstehen, daß er, was er sehr bedauere, „von höherer Stelle“ noch keine Erlaubnis bekommen habe, Fremde in seinem Dorf übernachten zu lassen. Er empfehle uns aber dem Camat von Lukem, dem Bürgermeister eines zwanzig Kilometer entfernten Dorfes.

Ermera erreichen es in völliger Dunkelheit. Die Zikaden geben ihr Nachtkonzert, die Moskitos umschwirren die vom Generator betriebenen Straßenlaternen. Das beleuchtete Haus des Camat liegt auf einem Hügel. Sechzig Kilometer südwestlich von Dili liegt das Dorf am Fuß eines Bergmassivs und wird vom knapp 3.000 Meter hohen Gunung Tata Mailau überragt, höchster Gipfel der Provinz. Das Spätnachmittagslicht läßt die Farbtupfer in sattem Grün der Blätter besonders intensiv leuchten. Zartrosa Oleander, violette Bougainvilleas, Hibiskus von pink bis himbeerrot und weißblühender Kaffee. Die braunen Bohnen regieren Ermera. Wie Teppiche bedecken die Kaffeebohnen die Straßen, wo sie zum trocknen ausgebreitet und von durchfahrenden Bussen und Lastwagen vorgeschält werden. Die relativ kleinen Plantagen, die hochwertige Ernten abwerfen, wurden zur Zeit der Portugiesen angelegt. Die hoch über dem Dorf thronende, zweitürmige Kirche mit ihren blauen Wandkacheln und den Marienbildern legt davon noch deutlich sichtbar Zeugnis ab.

90 Prozent wollen keinen indonesischen Paß

Zurück in Dili: Auch das Hotel stammt noch aus der Kolonialzeit. Die Rundbögen und der im Hotel kredenzte portugiesische Rotwein bestätigen es. Unser Zimmernachbar Arsenio Fernandez erzählt: Noch 80 Portugiesen lebten in Ost -Timor. Bei einer Einwohnerzahl von heute etwa 600.000 sind das verschwindend wenige. Seine halb-portugiesische Mutter, eine sogenannte mestica, habe es nach acht Jahren Wartezeit im Januar endlich geschafft, in die ihr bis dahin unbekannte „Heimat“ auszuwandern. Der Vater, reinblütiger Portugiese, lebe nicht mehr. Arsenio fühle sich zwar mehr als Portugiese denn als Indonesier, aber eigentlich sei er Timorese: „Das ist noch etwas ganz anderes“, meint er. Geboren und aufgewachsen in einem kleinen Dorf, kommt ihm eine Ausreise wie Verrat vor. Er will hierbleiben, zusammen mit seiner Familie und der Familie seiner Schwester.

Damit gehören Arsenio Fernandez und seine Verwandten zu den 90 Prozent Ost-Timoresen, die bis heute die indonesische Staatszugehörigkeit ablehnen und weiterhin ein unabhängiges Ost-Timor fordern. Diese Zahl nannte kürzlich in aller Öffentlichkeit der Bischof von Ost-Timor Monsignore Delo, womit er sich eine Rüge seiner indonesischen Glaubensbrüder einhandelte.

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