Vaclav Havel - Idol wider Willen

■ Mlada Boleslav porträtiert den tschechischen Schriftsteller und Charta-77-Mitbegründer

Mit Vaclav Havel zusammenzutreffen ist in der letzten Zeit schwierig geworden. Nicht, daß er sich, um seinen Preis als prominente Rarität zu steigern, künstlich zurückziehen würde. Aber seitdem die Luft auch in der Tschechoslowakei nach Umbruch und Wandel riecht, hecheln alle möglichen Agenten des Medienwesens hinter ihm her - in erster Linie Herrschaften, die vor einigen Monaten noch ausschließlich an den Lippen der eingeführten Autoritäten hingen. Den Sommer verbringt Havel schon seit Jahren in einem alten Bauernhaus in Hradecek, einem winzigen Ort irgendwo im Riesengebirge, unweit der polnischen Grenze, zweieinhalb Autostunden von Prag entfernt. Schon den Ort zu finden stellt einen also auf die Probe, und dann kann es immer noch sehr leicht passieren, daß der Vielbegehrte in ausgesucht höflichem Ton und mit einem verschämten Lächeln des aufrichtigen Bedauerns um die Mundwinkel sich dem Journalisten verweigert.

Politik und Literatur unter einen Hut zu bringen sei für ihn in erster Linie eine Frage der Zeit, sagt er später. Er wolle etwas schreiben und käme dann vor lauter politischen und den damit einhergehenden öffentlichen Verpflichtungen nicht dazu. „Ich wollte heute morgen zum Beispiel die Dankesrede für Frankfurt zu schreiben beginnen, doch ich konnte nicht anfangen, weil heute früh um sechs Uhr die polnischen Freunde abgefahren sind (Adam Michnik war bei ihm), dann kamen das holländische Fernsehen und Ihre Kollegen vom 'Stern‘. Jetzt sind Sie hier, und am Abend muß ich Radio hören, damit ich weiß, was geschieht, ob nicht einer von meinen Freunden verhaftet worden ist oder etwas Ähnliches. So komme ich kaum zum Schreiben der Dankesrede, aber vielleicht gelingt das morgen, wenn nicht wieder einer von Ihren Kollegen kommt.“

Daß unser Zusammentreffen schließlich doch zustande kam, war gemeinsamen Freunden in der BRD und der Tschechoslowakei zu verdanken und zwei aufopferungsvollen Aktivisten der Charta77, die hier nur aus Sicherheitsgründen nicht mit Namen genannt werden sollen.

Während Prag in der sommerlichen Hitze glüht, ist es oben im Riesengebirge, am Rande eines Tannenwaldes, unerwartet kühl. Als der betagte Skoda auf dem Kiesweg vor dem einsamen alten Haus anhält, kommt zuerst Frau Olga, eine schöne, etwas müde aussehende Fünfzigerin, und dann ein riesenhafter, böse kläffender Hund zum Vorschein. Es ist gut, ihn hier zu haben, zeigt Havel auf den immer noch mißtrauisch knurrenden Haushüter, denn oft treiben sich hier unangenehme Gestalten herum. Wie recht er hat, werden wir später selbst erfahren dürfen.

Ein politischer Asket ist Havel gewiß nicht. In dem großen Wohnraum mit den schönen alten Möbeln, dem Kamin und den vielen Bildern ließe es sich bestimmt gut leben. Doch fürs erste scheint Havel das gute Leben nicht vergönnt zu sein. Es geht ihm ganz offenkundig nicht gut. Seine Hände zittern, sein Blick ist unruhig. Seine Sprache dagegen von einer fast krampfhaften Monotonie. Er trinkt viel Bier während des Gesprächs und raucht unentwegt starke Zigaretten. Largo Desolato.

In seinem Stück Largo Desolato beschreibt er einen gewissen Dr. Kopriva, der nur einen einzigen Gedanken kennt: Wann werden sie mich abholen? Er kann nicht schlafen, nicht arbeiten, nicht lieben, nicht denken, nicht einmal mehr kacken kann er. Weil er sich einmal aufgelehnt hat, wird Kopriva von seiner Umgebung, von der ehemals geliebten Ehefrau, von den Freunden und von der unbekannten Arbeiterklasse, die sich durch eine Delegation von zwei Wenzels vertreten läßt, fortdauernd unter Druck gesetzt, der vorbildhafte Held zu sein, den sie in ihm sehen wollen. Zwischen seiner furchtbaren Angst vor dem Gefängnis und der nicht minder furchtbaren Angst, den an ihn gestellten hohen Erwartungen nicht genügen zu können, glaubt Kopriva zerrissen zu werden. Aber Kopriva ist nicht der Held, den die Massen brauchen. Er ist vielmehr ein Hasenfuß, der jedes Mal, wenn es klingelt, zu Tode erschrickt. Im entscheidenden Augenblick jedoch, als die Staatsmacht ihn schon mürbe glaubt, weigert er sich, die erlösende Unterschrift unter eine Erklärung zu leisten, mit der er seinen Widerstand für nichtig erklären würde. Doch kaum war er für einen Moment der Held, den alle in ihm sehen wollen, bricht er im nächsten Augenblick wieder kläglich zusammen und fleht der Stasi auf den Knien an, ihn endlich mitzunehmen und so seinen Leiden ein Ende zu bereiten.

Das Stück hat Havel 1983, kurz nachdem er aus dem Gefängnis entlassen wurde, geschrieben, und so taucht in fast jedem Gespräch unvermeidlich die Frage auf, wie es mit ihm und diesem Dr. Kopriva stünde, ob er denn auch die Höhen und Tiefen - vor allem die Tiefen - des Daseins als nationales Idol kenne. Havel mag diese Frage nicht, nicht nur, weil sie ihm zu oft gestellt wird und weil sie von jedem idiotischen Journalisten zum Anlaß genommen wird, in sein intimes Seelenleben einzudringen. Er mag sie vor allem nicht, weil sie eine viel zu profane Gleichsetzung von Kunst und persönlich Erlebtem impliziert. Bliebe es bei der unmittelbaren Identität von Dichtung und Wahrheit, würden die Havelschen Probleme niemanden außer einem kleinen Kreis der unmittelbar Betroffenen interessieren. Doch seine Stücke sind gut, daran besteht kein Zweifel.

Zwar haben sie häufig direkte Erfahrungen des Autors zum Thema, wie beispielsweise in der dreiteiligen Vanek-Reihe, aber Havel versteht es, die wesentliche Frage, die von allgemeiner Bedeutung, aus dieser Erfahrung herauszuschälen. Ein Beispiel: In seinem Einakter Audienz arbeitet der Schriftsteller Ferdinand Vanek als Hilfsarbeiter in einer Brauerei - wie einst Havel selbst. Während der Braumeister unglücklich und besoffen Tag für Tag vor sich hinleidet, geht es Vanek eher besser. Er weiß, warum er da ist, und nimmt die Strafe, als die seine Tätigkeit dort gedacht ist, mit einer gewissen Genugtuung auf sich. Erst als der Braumeister versucht, ihn in das alle einbindende Netz gegenseitiger - illegaler, halblegaler - Gefälligkeiten und Abhängigkeiten einzubeziehen, fängt er an, sich ebenso schlecht wie alle anderen zu fühlen. Auf seinen direkten moralischen Kern reduziert, wäre die Handlung freilich unerträglich seriös. Dieser Gefahr entrinnt Havel (wie in allen seinen Stücken) durch die Hervorkehrung der absurden Dimension des Geschehens: Der Gefallen, den Vanek dem Brauereimeister tun soll, ist nämlich nichts anderes als die Selbstdenunzierung. Wenn er schon als Schriftsteller gut mit Worten umzugehen versteht, soll er ihm doch die schwere Arbeit der Verfassung von wöchentlichen Berichten für die Sicherheitsorgane abnehmen, verlangt der Meister von ihm.

Das Absurde stand von Anfang an im Mittelpunkt des dramatischen Schaffens von Havel. Ende der fünfziger Jahre in gewisser Weise war das schon ein Vorbote des Prager Frühlings - wurden in Prag kleine avantgardistische Theater gegründet. Sie hießen Theater am Geländer, Semafor oder Rokoko und spielten Stücke von Beckett und Ionesco und von den jungen einheimischen Autoren, die bei sich das gleiche Lebensgefühl wie bei den Großen des Absurden Theaters entdeckt hatten. Havel war einer von ihnen. 1960 trat er in das Ensemble des Theaters am Geländer ein und war dort acht Jahre lang Mädchen für alles: Bühnenbildner und Kartenverkäufer, Reinigungskraft, Dramaturg und Stückeschreiber.

Havel meint, seine Empfindlichkeit für das Absurde sei lebensgeschichtlich bedingt. Er stammt aus einer bürgerlichen, wie er sagt, vielleicht auch großbürgerlichen Familie. Sein Großvater väterlicherseits war einer der berühmtesten Prager Architekten der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, er baute wunderschöne Jugendstilhäuser (auch das, in dem Vaclav Havel und sein Bruder ihre Wohnungen am Ufer der Moldau haben) und vor allem das trotz seines fortschreitenden Verfalls beeindruckende Lucerna-Haus am Wenzelsplatz. Der Bruder seines Vaters war der tschechische Filmmagnat zwischen den Kriegen, mit seinem Namen ist die Entstehung der Prager Filmateliers Barrandov verknüpft. Das Leben als „Herrensöhnchen“ - wie Havel sich selbst charakterisierte - behagte ihm jedoch nicht. Er litt unter der sozialen Ungerechtigkeit, die durch ihn andere traf.

Lange währte dieses Leiden allerdings nicht, denn alsbald, nach der Machtübernahme der Kommunisten, wurde es durch ein Leiden anderer Art abgelöst. Nun wurden die Havels als Großbourgeois zum Klassenfeind erklärt, er durfte nicht studieren und blieb auch mit seinen ersten literarischen Versuchen ein Außenseiter. Er gelangte also erneut in die Isolation, allerdings umgekehrter Art: in die Isolation der von der Gesellschaft Ausgestoßenen. Es sei ihm so lange verwehrt worden, sich mit irgendeiner real existierenden Gesellschaftsform zu identifizieren, daß er dazu allmählich ganz und gar unfähig wurde, sagt er heute. Geblieben ist die wohltuende Distanz zu den Dingen der Politik und des Lebens. Und hier ist vermutlich auch der Grund dafür zu suchen, warum Havel niemals Probleme mit der kommunistischen Versuchung hatte. Selbst den reformkommunistischen Experimenten im Jahre 1968 stand er eher skeptisch gegenüber, was ihn nicht daran hinderte, sich aktiv am Geschehen des Prager Frühlings zu beteiligen. Er war in führender Funktion im Schriftstellerverband tätig, und nach der Invasion betrieb er noch für kurze Zeit mit Freunden einen für illegal erklärten Radiosender.

Nach dem Beginn der „Konsolidierung“ wurde auch er für einige Jahre wortlos. Aber er war es auch, der diese Wortlosigkeit als erster durchbrach. In seinem 1975 an Gustav Husak gerichteten Brief lieferte er seine erste, bereits sehr präzise gefaßte Analyse der Krise, in der sich die „Konsolidierer“ und mit ihnen die ganze tschechische Gesellschaft befanden. Oft wurde Havel schon gefragt, was ihn damals veranlaßt habe, diesen Brief, der eigentlich ein umfangreiches Essay ist, zu verfassen, wo doch die Möglichkeit, erhört zu werden, denkbar gering, die Wahrscheinlichkeit der verschärften Verfolgung jedoch um so größer zu sein schien. Eine Art „Autotherapie“ sei der Brief gewesen, sagte Havel dem Journalisten Hvizdala, und das Risiko sei es ihm wert gewesen. Er habe aus diesem schrecklichen Zustand, immer nur passives Objekt „jener von den Siegern geschriebenen Geschichte“ zu sein, ausbrechen wollen.

Havel ist - und insofern ist er seiner Figur Dr. Kopriva gewiß nicht unähnlich - kein geborener Held. Im Gegenteil, man glaubt es ihm aufs Wort, daß er am liebsten heute noch Hilfsdramaturg im Theater am Geländer wäre. Niemals ist er mit wehenden Fahnen, im Bewußtsein einer gerechten historischen Mission ins Gefängnis gezogen. In seinen Briefen an Olga (alle im Gefängnis entstanden) und im autobiographischen Buch Fernverhör kann es jeder nachlesen: Auch er kennt die unbestimmte, aber umso quälendere Furcht vor der anonymen Behörde, vor ihren Schikanen und Erniedrigungen, die jedes Leben zur Hölle machen können. Und trotzdem gibt es immer wieder Situationen, in denen es ihn überkommt und er das Gefühl hat, unbedingt etwas tun zu müssen.

Nicht anders war es im Falle der Charta-Gründung. Die Aktivisten des Jahres 1968 litten zwar alle unter Publikationsverbot und den sonstigen kleinlichen Gehässigkeiten der Staatsmacht, aber immerhin wurde niemand eingesperrt, vor allem die berühmteren unter ihnen wurden geschont, um internationalen Protesten vorzubeugen. Eine aufmüpfige, an westlicher Musik orientierte Rockband dagegen glaubte das Regime ungestört hinter Gitter bringen zu können. Zumindest so ähnlich muß die Kalkulation gewesen sein, mit der die Regierung 1977 einen Prozeß gegen die „Plastic People of the Universe“ inszenieren ließ. Doch das erwies sich nicht nur für Havel als eine Situation, in der man unbedingt etwas tun mußte. Das Publikum, das während des Prozesses Tag für Tag den Gerichtssaal füllte, war bereits der Kern der zukünftigen Menschenrechtsorganisation Charta77, und Havel wurde einer ihrer ersten Sprecher.

Seitdem sind zwölf Jahre vergangen, Jahre, die für Vaclav Havel bestimmt nicht leicht waren. Keines der zahlreichen Stücke und Hörspiele, die er in dieser Zeit geschrieben hat, konnte je vor einem tschechischen Publikum gespielt werden. Fast vier Jahre verbrachte er im Gefängnis, erst aufgrund internationaler Proteste ist er 1983 schwer krank entlassen worden. Verurteilt wurde er 1980, weil er sich an der Arbeit des „Ausschusses zu Unrecht Strafverfolgter“ beteiligt hatte - eine absurde Komödie, die auch von ihm selbst hätte stammen können. Letztes Jahr wurde er wieder ins Gefängnis geschickt, weil er Blumen am Wenzelsdenkmal zu Ehren von Jan Palach niedergelegt hat, dem Studenten, der sich aus Protest und Verzweiflung über die Niederschlagung des Prager Frühlings vor 20 Jahren an diesem Ort selbst verbrannt hatte. Doch an der Vollstreckung des Urteils hatten Staat und Partei keine große Freude, Proteste im In- und Ausland zwangen sie erneut zu einer frühzeitigen Freilassung des Idols wider Willen.

Trotz des offiziellen Ersuchens von Außenminister Genscher darf Vaclav Havel nicht zur Verleihung des Friedenspreises nach Frankfurt kommen. Der Grund sei nicht etwa, daß man in Prag befürchte, er würde weiß Gott was in der Paulskirche erzählen, das sei denen ziemlich egal, meint Havel. Aber mit einem Paß, wenn er denn einen bekäme, könnte er nicht nur in den Westen, sondern auch nach Ungarn und Polen reisen, und das wollen die Herren der Prager Bartolomeiska-Straße, wo der Stasi haust, unter allen Umständen verhindern. Und daß er nichts lieber täte, als nach Polen und Ungarn zu reisen, das sieht man ihm an, während er diese Sätze spricht.

Nachdem sich Havel mit seiner schon legendären Höflichkeit dafür entschuldigt hat, daß ihm in Anbetracht der vielen Interviews, die er in der letzten Zeit zu geben gezwungen war, nichts Originelles eingefallen ist, treten wir am späten Nachmittag die Rückreise nach Prag an. Kaum hat der altersschwache Skoda den schmalen Kiesweg verlassen, erscheint im Rückspiegel ein weinroter Ford Skorpio, ein nicht ganz unauffälliges Gefährt in der Tschechoslowakei. Auch wenn unser Vehikel so manchen Hügel mit nur 30 Stundenkilometern zu bewältigen vermag, die Geduld der Insassen im weinroten Wunder scheint unendlich zu sein. Erst als sie uns auf der letzten Strecke der Autobahn nach Prag wissen, geben sie Gas und lassen uns fast stehen. Den Abend wollen wir in einem Restaurant verbringen, nach einigen Telefonaten gelingt es auch, einen Tisch zu bekommen. Es ist ein schöner Abend, wir gehen zu Fuß. Vor dem Restaurant, was steht davor? Richtig geraten: ein Ford Skorpio, weinrot. Wie schon gesagt. Es ist heutzutage nicht ganz einfach, Vaclav Havel zu besuchen.

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