: EINMAL UND NIE WIEDER IMMER
■ Dies und das im Kammermusiksaal
Als alternder Nachwuchsschreiber war ich nun am Wochenende von einer verantwortlichen Kulturredakteurin zu einem Konzert eingeladen. Wenngleich sie wußte, daß meine Musikkenntnisse ohne Sachverstand sind, schien es ihr unter anderem ein Anliegen, mir die Notwendigkeit der Versprachlichung einer weiteren Facette des kulturellen Erlebnisraums nahezubringen. Gegeben wurden „Concertino und Oktett“ von Igor Strawinsky. Otto M. Zykan: „Polemische Arie und Kinderreim“ (Uraufführung). Sektpäuschen: „Blue Monday“ (135th Street - das ist schon ziemlich oben in Harlem N.Y., N.Y., wo der Komponist in den 20er Jahren eine Jazz -Kneipe entdeckt hat, die den neutralen Namen „Mike's Saloon“ führt und zu der mich der finnische Taxifahrer Oktober '87 nie gefahren hätte. Der war kaum zu überreden, mich bis zur 123. Straße zu fahren. Dort mußte ich hin, weil sich eine anlagenverzweifelte Freundin einen größeren Part in einem Lukration versprechenden Immobilienobjekt zugelegt hatte. Die Anlage ließ die erwartete Dynamik vermissen. Die Ursache lag in einer verschleppten Yuppifizierung des Blocks, das heißt die Stadtsanierung war unerwartet langsam vorangekommen. In der Folge apportierte ich meiner Freundin die Konkreta, indem ich das finnische Taxi verließ, um mit ein paar Polaroid-Aufnahmen die Immobiliensituation zu dokumentieren. Der Finne verriegelte seinen Wagen von innen, während ich hockende Neger vor Hauseingängen und geputzte, also bewohnte Fenster oberhalb der zugemauerten ersten Etage ablichtete. Anschließend fuhr mich der Finne um den Block. Ich wollte einen perspektivischen Einblick in die soziokulturelle Entwicklungsmöglichkeit (wie wär's perspektivisch mit 'ner sprachlichen Entwicklung vom „Neger“ zum Schwarzen, d. S.in) des Immobilienumfeldes gewinnen. Dabei versprach er mir eine rasante Verbesserung dieser Wohnumgegend im Laufe der nächsten zwei Jahre, teilte er mir mit, daß Bürgermeister Koch ein Gangster ist, und er selbst demnächst eine Bäckerei in Kalifornien aufmachen werde. Spezialität: eine Mischung aus Piruakka und Baguette. Richtung Downtown beschloß ich, meine Freundin erstmalig zu ohrfeigen) von Gershwin.
Nun ist es bei uns eine schöne Familientradition, daß meine Eltern, mein Bruder und ich seit undenklicher Zeit in Begleitung einer armen Verwandtin, die zu diesem Zweck extra eingeflogen wird, das Jahr jedes Jahr am 31. Dezember mit einem Besuch der Berliner Philharmonie zu beschließen. Dort dirigierte Herbert von Karajan gewohnheitlich sein Berliner Philharmonisches Orchester, und wir fragten uns die letzten Jahre immer wieder besorgt, ob es wohl dieses Mal das letzte Mal gewesen sein wird. In diesem Jahr wissen wir es genau: Voriges Jahr war es das letzte Jahr.
Ich erwähne das, um meine Ungläubigkeit verständlich zu machen. Da ich der begleitenden Kulturredakteurin nicht abnehmen mochte, daß dieses Foyer das des Kammermusiksaals sein sollte, wo es doch aussieht wie das der Philharmonie, fragte ich einen diensthabenden Kartenabreißer, wo denn der Kammermusiksaal sei. „Sie befinden sich dortselbst.“ Auf meinem Konzertsessel glaubte ich ihm schließlich.
„Du siehst, was passiert, wenn man aus etwas Großem nichts Minimalistisches, sondern etwas Kleines, eben eine Kammer macht. Eine Kühlkammer im Defrost-Zustand“, rede ich auf die Kulturredakteurin neben mir ein. „Das machen wir nur bis inklusive der Sektpause mit. Denn das eigentliche Highlight des Abends ist Zykan. Und der kommt vor der Pause. Nach Strawinsky, Igor, 1882-1971, Oktett. Der wollte die Musik nicht mehr bereichern, sondern konstruieren. Sie sollte laufen wie eine gutgeölte futuristische Maschine, also eben nicht so gradlinig im Ablauf, mehr mit einer schroffen Dynamik, die sperrige Klangblöcke aus dem Weg räumt. Du wirst hören“, sagte ich, „das 'Concertino‘ hat Ähnlichkeit mit Prokowjews 'Peter und der Wolf‘ - nur daß es nicht so gut von der Stelle kommt. Und Gershwin schenken wir uns. Was 'Onkel Toms Hütte‘ in der Literatur, ist 'Porgy und Bess‘ in der Musik. Nein, diese Neger, wie die einem das Herz, das weiße, anrühren können. Ist doch wirklich avantgardistisch, 1923 einem Broadway-konditionierten Publikum so einen 'Blue Monday‘ aus der 135.Straße vorzusetzen. Raus aus dem Ghetto, rein in die Kultur. Oder raus aus dem Ghetto, rein in die Kultur. Ich kannte mal jemand, der wollte in der 123.Straße die Wohnverhältnisse verbessern., und...“
„Können Sie jetzt nicht mal ruhig sein“, fällt die Dame aus ihrem Sitz hinter mir in mein Wort. Also schweige ich zu Strawinskys 'Concertino und Oktett‘.
Dann kommt Zykan, Otto M., 1935, im weinroten Pullunder und springt - so wie jemand ohne Krankenversicherung in dem Alter springen kann - auf ein mannshohes Podest hinter dem Kleinorchester, formt die Hände zu einem Trichter vor dem Mund und ruft dem Publikum zu: „Wenn Sie dort sitzen bleiben, verstehen Sie kein Wort. Ich möchte Sie bitten, die freien Plätze vorne im Saal einzunehmen. Dort ist auch Akkustik.“ Kompetenter kann ein Komponist architektonische Fehlleistungen wohl kaum kommentieren.
Das Publikum gruppiert sich also neu, und die Redakteurin erklärt mir derweilen aus dem Programmheftstehgreif, daß Zykan den Kinderreim für ein Friedensbewegungsfestival vor dem Wiener Rathaus komponiert hat. Um mit seinem Auftritt neben Harry Belafonte, Konstantin Wecker, Wolfgang Ambros und Andre Heller das künstlerische Niveau halten zu können, begab er sich in die einsamen Karawanken und probte mit einem Kärtner Partisanenchor in Gaststättenhinterzimmern für das Festival. Die menschliche Verständigung soll, nach Aussage des Künstlers, gut gewesen sein (Zykan erhielt zum Abschied eine ehrenbezeugende Anstecknadel und den partisanischen Salut). Musikalisch schien der Integrationsversuch volkstümlicher Heimatkunst dagegen eher ein Fehlschlag: Otto M. Zykan trat vor dem Wiener Rathaus mit einer Soloarie auf.
Für die Berliner Aufführung holte er also die Chorfassung aus der Schublade und komponierte ein Kammerinstrumentarium hinzu. Die Zuschauer haben inzwischen die Komposition ihres lebenden Bildes abgeschlossen, und Zykan erklärt von seinem Hochplateau: „Dem Kinderreim stelle ich die Polemische Arie über Schönbergs unglücklichen Ausspruch: 'Ich habe eine Erfindung gemacht, die die Vorherrschaft der deutschen Musik für die nächsten 100 Jahre sicherstellt‘ voran.“
Und nun bricht dieser monströse Satz in einem Sprechgesang los, verfremdet sich, dadaiert im Takt eines großdeutschen Rap, während die Instrumente großschnauzigen Kasernenton produzieren, abgehackt. Fast nahtlos schließt sich der Kinderreim an, das Spiel der lieben Kleinen: piff paff puff und du gehst druff, diese fließend gestotterte selbstverständliche Auszählgereimtheit, der Chor kann der virtuosen Geschwindigkeit des Solisten nicht folgen, greift sich einzelne Silbenfetzen heraus, nimmt schließlich die Mundharmonika als Infantil-Begleiterin hinzu, während das Orchester tröstende Sicherheit in einer Melodie aus Beethovens G-Dur-Klavierkonzert sucht. Doch vergeblich: Jegliche Musikalität wird von den Silbengeschossen des Solisten ausgehebelt. Worte in SinnUnSinnUn, Musik ohne Transzendenz. Martialisches Mundgeräusch - eben das, was alltägliches Zuhören so fast unmöglich macht.
Und mittendrin ist es auch schon zu Ende. Alles ist wieder Konzertsaal. Standing ovations. Strawinskys Publikum klascht sich fast die Arme ab. Will noch mehr Zykan hören. Der gewährt aber keine Zugabe, ebenso wie er bis heute keine Reproduktion seiner Kompositionen zugelassen hat: keine CD, keine Kassette, keine Schallplatte. Nur Zykan real und virulent - als letzter kräftiger Original-Zug an der Notbremse der Strawinsky-Karajan-Gershwin und Co. -Modelleisenbahn, die aber rollt und rollt und rollt.
A. Modern
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen