: Neues aus der Friedrichsstraße
■ "Herzlich willkommen" - eine gesamtdeutsche Familientragödie in 476 Folgen, vom Leben abgeschrieben von Lutz ehrlich und Suse Riedel
Bis letzten Dienstag, dem Tag als der erste Teil unserer Erfolgsserie erschien, wohnten die Schultzes, will sagen Uschi (41) ihr Gatte Wolfgang (43) von der BfA sowie Ingo (17) nebst Oma friedlich in der Friedrichstraße (West) in wie sich bald herausstellen sollte - allzu verkehrsgünstiger Bell-Alliansplatz-Lage. Denn geradewegs aus Ungarisch-Passau kommend nahten die Ost-Schultzes: Tante Helga, Onkel Herbert vonner Ost-BVG sowie Säugling Rita und Teenager Meike. Während Onkel Herbert gleich eine neue Wirkungsstrecke als Busspurbetreuer in Wittenau fand, und zwar noch bevor Tante Klärchen aus Jena die notwendigen Papiere in der Strumphose rüber gebracht hatte, mußte Oma - quasi aus Belle-Allianz -Platznotgründen - schon in der zweiten Folge den Schocktod sterben, während die frischverautounfallte Teenager-Meike im Urban-Krankenhaus zwischengelagert wurde. Dafür zog dann der Biochemiestudent Winfried und seine 2.000 DM Studentenwerksprämie ins Zusammenleben der vereinigten Schultzes ein bzw. mitsamt dem West-Sohn Ingo gleich wieder aus. Und zwar in eine WeGe, die wiederum für Tante Helga zunächst zum Arbeitsplatz (putzen) und dann zum Zufluchtsort (durchbrennen) wurde...
Wilfried, der mit der Biochemie und Helgas neuer Gespusi, war ja dagegen, aber Helga, früher Ost, jetzt doppelt West, mußte sich den langen Samstag einfach geben: „Für'n Video reicht's ja noch nicht, aber ein paar neue Schuhe, die mußten unbedingt her - ist ja das erste, was man hier braucht. Daß sich diese Marzahn-Schranzen überhaupt noch mit ihren ausgelatschten VEB-Modellen auf den Tauentzien wagen. Und dann komm‘ ich zum Bahnhof Zoo, und ich denke, ich seh‘ nicht recht: Ist da 'ne Schlange, lang, wie im Osten - na, denk‘ ich, Weintrauben werden sie hier wohl nicht verkaufen wie drüben zu Erichs Jubelparty. Dann wird das wohl eine von diesen Demonstrationen sein, haben die ja viel hier. Und daß die jetzt auch bei uns drüben Putz machen, das konnte ja keiner ahnen, da hätte man glatt noch ein bißchen dableiben können.“
Helga Schultze, schon ganz auf Randale eingestellt, mußte bitter erkennen, daß es sich bei dieser Menschenansammlung lediglich um die allsamstäglichen Wohnraumbeschaffungsversuche mittels der 'Mottenpest‘ handelte. Was Helga nicht ahnen konnte, war, daß zur gleichen Zeit eine wirklich politische Aktion stattfand.
Erstes Opfer der neuen autonomen Aktionsgruppe „Linksradikale gegen Aus- und Kleingartensiedler“ wurde ausgerechnet Ingos ererbter Trabbi, mit dem vorher Helga, Herbert und die Kinder so manchen Urlaub in den entlaubten Wäldern der Tschechoslowakei verbrachten. Jetzt ging auch das letzte Symbol der Ost-Schultzeschen Ehe in Flammen auf.
Trotz der jubelnden, autonomen Menschenmenge auf dem Heinrichplatz fand Ingo diese spontane Entladung des Zorns der unterdrückten, selbsternannten Proletarier- und Kiez -Avantgarde überhaupt nicht komisch: „Also, das find ich echt scheiße, daß die hier meinen Trabbi bröseln, und mit Umweltbewußtsein hat das ja wohl gar nichts zu tun. Was meinste, wie das stinkt, wenn so eine Plastiklaube abkokelt, ist doch echt Ost, oder was? Da muß ich mir jetzt doch 'ne Umweltkarte kaufen, obwohl die in meiner WeGe ja gesagt haben, das wäre ja auch der letzte Quatsch, daß man jetzt wegen Rot-Grün plötzlich alle Gesetze befolgen müßte.“
„Vorwärts immer, rückwärts nimmer“: Erichs Losung zum Jubiläum wurde auch zu Ingos letzter Parole, bevor er mit der U 7 und der neuen Umweltkarte Richtung Spandau stochte, um an Ort und Stelle die neue Stromtrasse zu verhindern. So long, Ingo. So strong, Herbert: Nachdem Helga durchgebrannt war, blieb ihm nur das Schulli-Sixpack, mit dem er es sich nach der BVG-Fortbildung auf dem Schultze-Sofa bequem machte. Blauhemd um Blauhemd zog winkend über den Bildschirm: Der Osten marschierte nicht nur nach draußen. Ob die wohl schon im Kreis gehen müssen, daß es nach mehr aussieht? fragte sich Onkel Herbert angetütert, als der entscheidende Anruf kam:
„Herbert, Uschi hier. Jetzt ist es passiert. Wolfgang ist unterwegs, hat was Schreckliches vor. Dem haben sie als neuen Chef so ein Würstchen vom Leipziger Allerlei vorgesetzt, und jetzt sollst du an allem schuld sein. Der ist nur noch eben auf einen Sprung in den „Wienerwald“: 'Dem werd‘ ich seinen Goldbroiller geben‘, hat er gesagt, 'dem schlage ich mit dem Ding den Schädel ein.‘ Herbert, nimm‘ dich in acht vor dem.“
Fortsetzung folgt
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