„Der Atomvertrag ist absurd geworden“

■ taz-Gespräch mit dem brasilianischen Ökonom und Autor des Buches „Die deutsche Nuklear-Expansion“, Cesare Giuseppe Galvan, über den deutsch- brasilianischen Atomvertrag / 15 Jahre nach dem Abkommen erweist sich der Vertrag für Brasilien als finanzielle und volkswirtschaftliche Katastrophe

taz: Was war der Hauptgrund für den Abschluß des deutsch -brasilianischen Atomvertrags von 1975?

Lesare Giuseppe Galvan: Es ging bei diesem Atomvertrag vor allem um das Atomgeschäft. Die deutsche Atomindustrie schlitterte Anfang der 70er Jahre in die Krise und versuchte deshalb, im Ausland Geschäfte zu machen. Zur gleichen Zeit stritten sich in Brasilien die Militärs darüber, wie das heimische Atomprogramm fortgesetzt werden sollte. Dabei besann man sich der Kooperation mit den Deutschen.

Die hatte ja bereits Tradition.

Brasilien hatte schon Anfang der 50er Jahre in der Atomforschung enge Kontakte zur Bundesrepublik geknüpft. Es gab bereits Verträge, die auf deutscher Seite wegen des Alliierten-Gesetzes allerdings nicht von Regierungsstellen, sondern von dem Atomforscher Professor Wilhelm Groth (einer der Väter der deutschen Atomforschung und Entwickler der Gaszentrifuge für die Urananreicherung, die Red.) abgeschlossen worden waren. Damals wurden drei Uranzentrifugen von den Satorius-Werken in Göttingen hergestellt und nach Brasilien verkauft. Mit der Ausfuhr gab es allerdings 1953 bis 1955 zunächst noch große Probleme, weil die Alliierten sich weigerten, eine Genehmigung zu erteilen. Aber trotz dieser Schwierigkeiten gelang es schließlich nach Abschluß der Pariser Verträge und dem Ende des Alliierten-Rechts, die Zentrifugen zu verkaufen. 1958 wurden sie dann nach Brasilien ausgeliefert. Sie waren Teil des ersten brasilianischen Atomprogramms, das noch beinahe gemütliche Dimensionen hatte. Das Technologische Institut von Sao Paulo mit Ivo Jordan an der Spitze beschäftigte sich damals mit diesen Dingen. Jordan war in dieser Angelegenheit mehrfach in der Bundesrepublik, und Groth kam dann einige Male nach Brasilien.

In den 50er und 60er Jahren dominierte noch die große Atom -Euphorie. War diese Begeisterung auch in Brasilien spürbar, und hat sie das brasilianische Atomprogramm vorangetrieben?

Es gab diese Euphorie in Brasilien, aber es gab auch militärische Interessen, vor allem der Marine, an einem Atomprogramm. Konkret ging es dabei um Vorarbeiten für die Urannreicherung. Es dauerte bis Anfang der 80er Jahre, bis die Anreicherung durch den Bau von Atom-U-Booten eine sehr reale Perspektive bekam. Man hat Anfang der 80er Jahre mit derselben alten Technologie aus dem ersten Atomgeschäft wieder angefangen. Erst später wurde die neue Anreicherungsanlagen eingeführt und eine neue Zentrifuge gebaut. Die neue Technologie ist wiederum deutschen Ursprungs, sie ist fast deckungsgleich mit der Technologie von „Urenco“ (deutsch-niederländisch-britische Urananreicherungsfirma).

Wie entwickelte sich die deutsch-brasilianische Kooperation nach dem ersten Atomgeschäft in den 50ern bis zum Abschluß des Atomvertrages im Jahre 1975?

Eine Kooperation lag lange Zeit gewissermaßen in der Luft, ohne daß sie wirklich konkret wurde. Und dann kam erst einmal alles ganz anders. Nachdem die brasilianische Regierung Ende der 60er Jahre beschlossen hatte, Atomkraftwerke zu bauen, wurde das erste Projekt an den US -Hersteller „Westinghouse“ vergeben, um „Angra I“ zu bauen. Das Fundament dieses Kraftwerks, seine Betonhülle und die festen Bauteile wurden in Brasilien hergestellt, Westinghouse lieferte die Technologie. Doch das Gemeinschaftswerk scheiterte, Westinghouse arbeitete sehr schlecht, es traten große Schwierigkeiten und Defekte auf, die bis heute angehalten haben. „Angra I“ wird niemals ein ordentlich arbeitendes Kraftwerk sein.

Nachdem das erste Kraftwerk im Bau war, beschloß die brasilianische Regierung, weitere AKWs zu installieren und einen eigenen kompletten Brennstoff-Kreislauf aufzubauen. Doch da wollten die Amerikaner nicht mitmachen. Sie weigerten sich, die militärisch brisanten Anreicherungs- und Wiederaufarbeitungstechnologien zu verkaufen. Daher mußte sich das brasilianische Energieministerium umorientieren. So wurde 1974 mit deutschen Firmen verhandelt und der Vertrag vorbereitet, der dann ein Jahr später abgeschlossen wurde.

In diesem Vertrag ging es ja nicht nur um wichtige Komponenten aus dem Brennstoff-Kreislauf, sondern auch um den Bau von acht weiteren Atomkraftwerken.

Im Vordergrund des brasilianischen Interesses stand der Brennstoff-Kreislauf, Kraftwerke hätte man ja auch woanders kaufen können. Der Bau der acht AKWs ist zwar in dem Vertrag vereinbart worden, aber es wurden nur zwei bestellt.

Erstaunlich ist, daß die politische Opposition anfangs mit dem Atomkurs der brasilianischen Regierung einverstanden war und nur vonseiten einiger Physiker und anderer Wissenschaftler Kritik kam. Erst mit den wachsenden finanziellen Problemen, den gravierenden technischen Schwierigkeiten in den Kraftwerken und dem Bekanntwerden der Tatsache, daß die Fundamente der brasilianischen Atommeiler bröckelten, wuchs allmählich die Opposition.

Wie sehen Sie aus Ihrer Perspektive als Brasilianer die deutsche Haltung beim Vertragsabschluß 1975?

Die drei Stichworte heißen Krise, Kontraktion und Expansion. Die Krise der Atomwirtschaft war Mitte der 70er Jahre deutlich hervorgetreten. Man spürte, daß der nationale Markt sehr begrenzt war, daß es nicht weiterging, und man setzte in dieser Lage auf die Expansion auf dem Weltmarkt. Dieser Expansionskurs hatte bereits Ende der 60er Jahre in Argentinien begonnen, und nun orientierte sich die Atomindustrie nach Brasilien, Südafrika und Iran. Das sind nur vier Beispiele - es gibt noch viel mehr -, die den Expansionskurs der deutschen Atomwirtschaft gut sichtbar machen.

Dieser aggressive Exportkurs machte also selbst vor Ländern und Regimes nicht halt, denen die USA restriktiv gegenübertraten?

Als Ende der 60er Jahre frühzeitig der Verkauf von „Atucha I“ nach Argentinien gelang, war die deutsche Atomwirtschaft auf weitere Exportgeschäfte eingestellt und witterte einen großen Markt. Zugleich gab es in der deutschen Wirtschaft das ungeschriebene Gesetz, Exportgeschäfte unter rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu behandeln, frei von politischen und moralischen Aspekten. Die USA dagegen haben ihre Exportgeschäfte immer auch unter dem Aspekt der Nichtverbreitung von Atomwaffen gesehen. Zumindest bis 1975 dominierte in der Bundesrepublik aber das rein wirtschaftliche Prinzip. Und das galt nicht nur für das Oligopol der Atomfirmen, sondern auch für die Politik der Regierung.

1975 war ja ein wichtiges Jahr für die Politik der Non -Proliferation.

Das ist eine wichtige Koinzidenz. 1975 hatte sich der „Nuclear Suppliers Club„(*) schon organisiert, wenn auch noch nicht öffentlich. Die Bundesrepublik spielte dabei ein doppeltes Spiel. Sie unterschrieb den Vertrag, etablierte sich aber zugleich weiter als Exportmacht für Atomtechnologie. Das Atomgeschäft mit Brasilien wurde dadurch abgesichert, daß man zwar auf den Export „sensibler“ Anreicherungs- und Wiederaufarbeitungstechnologien verzichten wollte, aber bereits abgeschlossene Verträge von diesem Verzicht ausklammerte. Brasilien wurde also als Ausnahmefall deklariert.

Glauben Sie, daß sich die Atomfirmen und Politiker der Bundesrepublik über die militärische Relevanz des Atomvertrages mit Brasilien von Anfang an bewußt waren?

Das war ganz klar. In denselben Tagen und Wochen, in denen der Atomvertrag ausgearbeitet wurde, waren deutsche Vertreter in London, um dort über dieses Atomgeschäft und seine brisanten Implikationen mit den Amerikanern und Sowjets zu sprechen. Die Bundesrepublik drängte in London darauf, daß solche Exportgeschäfte rein wirtschaftlich -kommerziell behandelt werden. Gegen die Gefahr der Proliferation sollte notfalls ein zweiter Vertrag abgeschlossen werden. Und so wurde es im Fall Brasilien und auch in bezug auf den Iran dann tatsächlich gehandhabt. Es gab also ein bilaterales Abkommen zwischen der Bundesrepublik und Brasilien und ein trilaterales Abkommen zwischen der Bundesrepublik, Brasilien und der Internationalen Atomenergie-Behörde (IAEA) in Wien, um die Atomkooperation unter internationale Kontrolle zu stellen. Doch die entscheidende Frage ist: Was wird von der IAEA eigentlich kontrolliert? Das ist das Problem. Die Anreicherungstechnologie hat sich Brasilien ja nicht direkt durch den Atomvertrag gesichert, der kontrolliert wurde, sondern über indirekte Wege. Man sammelte eigene Erfahrungen in der Bundesrepublik, kaufte ganz zufällig passende Apparaturen, und brasilianische Wissenschaftler besorgten sich in der Bundesrepublik das nötige Know-how.

Läßt sich denn heute klipp und klar nachweisen, daß das importierte Atom-Know-how militärisch genutzt wurde?

Es gibt eine deutliche personelle und technologische Kontinuität im brasilianischen Atomprogramm bis heute, bis hin zum geplanten Bau von Atom-U-Booten der Marine. Die Weiterentwicklung der Anreicherungstechnologie und ihre praktische Anwendung einerseits und die Entwicklung von Kompakt-Reaktoren für Atom-U-Boote andererseits stehen heute im Mittelpunkt des Atomprogramms. Und bei den U-Booten kommt die Bundesrepublik wieder ins Spiel. Die Bundesrepublik hat gerade in diesem Jahr ein U-Boot an Brasilien verkauft. Kein Atom-U-Boot, sondern ein „normales“. Noch während sich das U -Boot im Bau befand, reisten brasilianische Spezialisten und Militärs nach Kiel, um sich das anzusehen und Erkenntnisse zu sammeln. Zur gleichen Zeit hatte man in Brasilien ebenfalls den Bau von drei U-Booten begonnen - nach demselben Modell. Man hat also drei Projekte: Einmal wurde und wird die Urananreicherung bei „IPEN“ in Sao Paulo entwickelt, die den Brennstoff liefern soll. Zum zweiten wird bei IPEN an einem Kompakt-Reaktor gearbeitet. Und zum dritten werden U-Boote gebaut. Setzt man alle drei Teile zusammen, hat Brasilien ein Atom-U-Boot, vielleicht schon Ende der 90er Jahre.

Ganz offiziell hat das alles natürlich nichts mit dem deutsch-brasilianischen Atomvertrag zu tun. Aber es gibt eine unbestreitbare Ausnahme: Die drei brasilianischen U -Boote werden von der Firma „Nuclep“ entwickelt. Diese Firma für Schwerausrüstungen der Atomwirtschaft wurde als Bestandteil des deutsch-brasilianischen Atomvertrages gegründet unter dem gemeinsamen Dach der deutschen „Kraftwerkunion“ (heute Siemens) und der brasilianischen „Nuclebras“. Diese riesige Firma, die eigentlich Anlagen -Komponenten für Atomkraftwerke bauen sollte, hat nichts zu tun und entwickelt jetzt die U-Boote. Bei den nuklearen Komponenten selbst herrscht Flaute: Bisher sind ja nur zwei der acht ursprünglich vereinbarten Atomkraftwerke im Bau.

Bei den beiden bisher im Bau befindlichen Kraftwerken gibt es ebenfalls erhebliche Verzögerungen und große technische Probleme. Wann sollen die in Betrieb gehen?

Laut Abkommen sollten in diesem Jahr schon sechs Atomkraftwerke Strom erzeugen. Glaubt man der letzten offiziellen Erklärung, wird das erste AKW aber frühestens 1992 in Betrieb gehen, und das zweite Kraftwerk Mitte der 90er. Doch vermutlich wird es noch weitere Verzögerungen geben, und „Angra II“, das erste Kraftwerk aus dem deutsch -brasilianischen Atomvertrag, wird dann wohl erst Mitte der 90er Jahre Strom produzieren. Ganz schlimm sieht es für „Angra III“ aus. Dort wurde bisher lediglich die Baugrube ausgehoben. Obwohl noch nicht einmal die Fundamente stehen, sind zahlreiche technische Teile bereits fertig. Das ist der eigentliche Grund, warum man auf dieses Kraftwerk nicht mehr verzichten kann. Das Inventar ist schon vorhanden und rostet vor sich hin.

Welches sind die wichtigsten Gründe für die enormen Verzögerungen und die zurückgenommenen Atom-Pläne?

Es hat sich gezeigt, daß der Bau von derart vielen Atomkraftwerken überhaupt keinen Sinn macht in einem Land mit solchen Kapazitäten an Wasserkraft. Außerdem braucht die brasilianische Wirtschaft diese Kraftwerke nicht. Und die Finanzierung ist zusammengekracht.

Es gibt Zahlenangaben, wonach für die brasilianischen Atomkraftwerke gegenwärtig 350 Millionen Dollar an Zinsen zu zahlen sind.

Es gibt viele Zahlen, und sie haben eines gemeinsam: Sie sind alle riesengroß. Hinzu kommt jetzt noch, daß die Lagerung der technischen Teile finanziert werden muß. Sie müssen gewartet und bewacht werden. Das ist sehr teuer. Das Atomprogramm wird also immer lästiger, und Brasilien möchte sich eigentlich auf die militärischen Implikationen konzentrieren. Klar ist, daß der Atomvertrag in seiner ursprünglichen Fassung absurd geworden ist und daß er völlig umgeschrieben werden muß, ja, daß ihn die Realität bereits umgeschrieben hat.

Gibt es heute in Brasilien eine innenpolitische Debatte um das Atomprogramm?

In diesem Jahr ist diese Debatte sogar besonders heftig geworden. Das liegt zum einen daran, daß die Finanzierungskrise immer gravierender wird. Im vergangenen Jahr gab es eine heiße Debatte in der Presse über die militärischen Implikationen. Es ging konkret um die Frage, ob mit Hilfe der Anreicherungstechnologie eine Atombombe gebaut werden kann. Darüber ist letztes Jahr von Federico Füllgraf auch ein Buch erschienen. Er äußert darin die Überzeugung, daß die Militärs Anfang der 90er Jahre entscheiden werden, ob sie die Bombe bauen oder nicht.

Diese Diskussion ist auch deshalb neu entbrannt, weil in der neuen brasilianischen Verfassung von 1988 steht, daß die Atomenergie nur zu friedlichen Zwecken genutzt werden darf. Hier sind den Militärs also gewisse Schranken gesetzt. Aber das alles ist eine Frage der Interpretation. Brasilien hat ja auch das Abkommen von Tlatelolco über ein atomwaffenfreies Lateinamerika unterzeichnet und ratifiziert. Doch dieser Vertrag gilt für Brasilien nur, wenn auch alle anderen Länder ihn ratifiziert haben.

Interview: Manfred Kriener

(*)Als Reaktion auf die „Test-Explosion“ einer Atombombe durch Indien hat sich 1975 in London der sogenannte „Nuclear Suppliers Club“ gegründet, dem zunächst Kanada, Frankreich, die Bundesrepublik Deutschland, Japan, Großbritannien, die USA sowie die Sowjetunion angehörten. Später schlossen sich noch Belgien, die CSSR, die DDR, Italien, die Niederlande, Polen, Schweden und die Schweiz an. Im Jahre 1976 gab sich der „Club“, der als informeller Zusammenschluß über keine Sanktionsmöglichkeiten verfügt, einen Verhaltenskodex („Trigger-List“). Darin wurde festgehalten, daß nukleares Material und Atomtechnologie nicht an Länder exportiert werden dürfen, die nicht Mitglied im Nuclear Suppliers Club sind.